Homer und die klassische Philologie - Page 5

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von Friedrich Nietzsche

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wird die Zeichnung ihres Dichterindividuums ausfallen.

Alle jene Auswüchse, alles Matte oder Masslose, das man in den homerischen Gedichten zu finden glaubte, war man sofort bereit, der leidigen Tradition beizumessen. Was blieb nun als das Individuell-Homerische zurück? Nichts als eine nach subjektiver Geschmacksrichtung ausgewählte Reihe besonders schöner und hervortretender Stellen. Den Inbegriff von ästhetischer Singularität, die der Einzelne nach seiner künstlerischen Fähigkeit anerkannte, nannte er jetzt Homer.

Dies ist der Mittelpunkt der homerischen Irrtümer. Der Name Homer hat nämlich von Anfang an weder zu dem Begriff ästhetischer Vollkommenheit, noch auch zu Ilias und Odyssee eine notwendige Beziehung. Homer als der Dichter der Ilias und Odyssee ist nicht eine historische Überlieferung, sondern ein ästhetisches Urteil.

Der einzige Weg, der uns hinter die Zeit des Pisistratus zurückführt und über die Bedeutung des Namens Homer vorwärts bringt, geht einerseits durch die homerischen Stadtsagen: aus denen auf das Unzweideutigste erhellt, wie überall epische Heroendichtung und Homer identifiziert werden, er dagegen nirgends in einem andern Sinne als Dichter der Ilias und Odyssee gilt, als etwa der Thebais oder eines anderen zyklischen Epos. Andernteils lehrt die uralte Fabel von einem Wettkampfe Homers und Hesiods, dass man zwei epische Richtungen, die heroische und die didaktische beim Nennen dieser Namen herausfühlte, dass somit in das Stoffliche, nicht in das Formale die Bedeutung Homers gesetzt wurde. Jener fingierte Wettkampf mit Hesiod zeigt noch nicht einmal ein dämmerndes Vorgefühl des Individuellen. Von der Zeit des Pisistratus aber an, bei dem erstaunlich schnellen Entwicklungsgange des griechischen Schönheitsgefühls wurden die ästhetischen Wertunterschiede jener Epen immer deutlicher empfunden: Ilias und Odyssee tauchten aus der Flut empor und blieben seitdem immer auf der Oberfläche. Bei diesem ästhetischen Ausscheidungsprozess engte sich der Begriff Homers immer mehr ein: die alte stoffliche Bedeutung von Homer, dem Vater der epischen Heroendichtung, wandelte sich in die ästhetische Bedeutung von Homer, dem Vater der Dichtkunst überhaupt und zugleich ihrem unerreichbaren Prototyp. Dieser Umbildung ging eine rationalistische Kritik zur Seite, die den Wundermann Homer sich übersetzte in einen möglichen Dichter, die die stofflichen und formalen Widersprüche jener zahlreichen Epen gegen die Einheit des Dichters geltend machte und den Schultern Homers allmählich jenes schwere Bündel zyklischer Epen abnahm.

Also Homer als Dichter der Ilias und Odyssee ist ein ästhetisches Urteil. Damit ist jedoch gegen den Dichter der genannten Epen durchaus noch nicht ausgesagt, dass auch er nur eine Einbildung, in Wahrheit eine ästhetische Unmöglichkeit sei: was die Meinung nur weniger Philologen sein wird. Die Meisten vielmehr behaupten, dass zum Gesammtentwurfe einer Dichtung wie die Ilias ist ein Individuum gehöre, und gerade dies sei Homer. Man wird das erste zugeben müssen, aber das zweite muss ich nach dem Gesagten leugnen. Auch zweifle ich, ob die Meisten zur Anerkennung des ersten Punktes von folgender Erwägung aus gekommen sind.

Der Plan eines solchen Epos wie der der Ilias ist kein Ganzes, kein Organismus, sondern eine Auffädelung, ein Produkt der nach ästhetischen Regeln verfahrenden Reflexion. Es ist gewiss der Maßstab der Größe eines Künstlers, wie viel er zugleich mit einem Gesamtblick überschauen und sich rhythmisch gestalten kann. Der unendliche Reichtum eines homerischen Epos an Bildern und Szenen macht einen solchen Gesamtblick wohl unmöglich. Wo man aber nicht künstlerisch überschauen kann, pflegt man Begriffe an Begriffe zu reihen und sich eine Anordnung nach einem begrifflichen Schema auszudenken.

Dies wird um so vollkommener gelingen, je bewusster der anordnende Künstler die ästhetischen Grundgesetze handhabt: ja er wird selbst die Täuschung erregen können als ob das Ganze in einem kräftigen Augenblicke als anschauliches Ganze ihm vorgeschwebt habe.

Die Ilias ist kein Kranz, aber ein Blumengewinde. Es sind möglichst viel Bilder in einen Rahmen gesteckt, aber der Zusammensteller war unbekümmert darum, ob auch die Gruppierung der zusammengestellten Bilder immer eine gefällige und rhythmisch schöne sei. Er wusste nämlich, dass das Ganze für Niemand in Betracht kam, sondern nur das Einzelne. Jene Auffädelung als die Kundgebung eines noch wenig entwickelten, noch weniger begriffenen und allgemein geschätzten Kunstverstandes kann aber unmöglich die eigentliche homerische Tat, das epochemachende Ereignis gewesen sein. Vielmehr ist der Plan gerade das jüngste Produkt und weit jünger als die Berühmtheit Homers. Diejenigen also, welche nach dem «ursprünglichen und vollkommenen Plane suchen,» suchen nach einem Phantom; denn der gefährliche Weg der mündlichen Tradition war eben vollendet als die Planmäßgkeit hinzukam; die Verunstaltungen, die jener Weg mit sich brachte, können nicht den Plan getroffen haben, der in der überlieferten Masse nicht mitenthalten war.

Die relative Unvollkommenheit des Planes aber darf durchaus nicht geltend gemacht werden, um in dem Planmacher eine von dem eigentlichen Dichter verschiedene Persönlichkeit hinzustellen. Es ist nicht nur wahrscheinlich, dass alles, was mit bewusster ästhetischer Einsicht in jenen Zeiten geschaffen wurde gegen die mit instinktiver Kraft hervorquellenden Lieder unendlich zurückstand. Ja man kann noch einen Schritt weiter gehen. Zieht man die großen sogenannten zyklischen Dichtungen zur Vergleichung herbei, so ergibt sich für den Planmacher von Ilias und Odyssee das unbestreitbare Verdienst, in dieser bewussten Technik des Komponierens das relativ Höchste geleistet zu haben; ein Verdienst, das wir von vorn herein geneigt sein möchten, an demselben anzuerkennen, der uns als der Erste im Reiche des instinktiven Schaffens gilt. Vielleicht wird man sogar eine weittragende Andeutung in dieser Verknüpfung willkommen heißen. Alle jene als so erheblich geltenden, im Ganzen aber höchst subjektiv abgeschätzten Schwächen und Schäden, die man gewohnt ist, als die versteinerten Überreste der Traditionsperiode auszusehen – sind sie nicht vielleicht nur die fast notwendigen Übel, denen der geniale Dichter bei dem so grossartig intentionierten, fast vorbildlosen und unberechenbar schwierigen Komponieren des Ganzen anheimfallen musste?

Man merkt wohl, dass die Einsicht in die durchaus verschiedenartigen Werkstätten des Instinktiven und des Bewussten auch die Fragestellung des homerischen Problems verrückt: und wie ich meine, dem Lichte zu.

Wir glauben an den einen grossen Dichter von Ilias und Odyssee – doch nicht an Homer als diesen Dichter.

Die Entscheidung hierüber ist bereits gegeben. Jenes Zeitalter, das die zahllosen Homerfabeln erfand, das den Mythus vom homerisch-hesiodischen Wettkampf dichtete, das die sämmtlichen Gedichte des Zyklos als homerische betrachtete, fühlte nicht eine ästhetische sondern eine stoffliche Singularität heraus, wenn es den Namen «Homer» aussprach. Homer gehört für dies Zeitalter in die Reihe von Künstlernamen wie Orpheus Eumolpus Dacdalus Olympus, in die Reihe der mythischen Entdecker eines neuen Kunstzweiges, denen daher alle späteren Früchte, die auf dem neuen Zweige gewachsen sind, dankbarlich gewidmet wurden.

Und zwar gehört auch jener wunderbarste Genius, dem wir Ilias und Odyssee verdanken, zu dieser dankbaren Nachwelt; auch er opferte seinen Namen auf dem Altare des uralten Vaters der epischen Heroendichtung, des Homeros.

Bis zu diesem Punkte und im strengen Fernhalten aller Einzelheiten habe ich Ihnen, hochverehrte Anwesende, die philosophischen und ästhetischen Grundzüge des homerischen Persönlichkeitsproblems vorzuführen gedacht: in der Voraussetzung, dass die Grundformationen jenes weitverzweigten und tief zerklüfteten Gebirgs, welches als die homerische Frage bekannt ist, sich am schärfsten und deutlichsten in möglichst weiter Entfernung und von der Höhe herab aufzeigen lassen. Zugleich aber bilde ich mir ein, jenen Freunden des Altertums, die uns Philologen so gern Mangel an Pietät gegen große Begriffe und eine unproduktive Zerstörungslust vorwerfen, an einem Beispiel zwei Tatsachen ins Gedächtnis gerufen zu haben. Erstens nämlich waren jene «großen» Begriffe wie z. B. der vom unantastbaren einen und ungeteilten Dichtergenius Homer in der Vor-Wolfschen Periode, tatsächlich nur zu große und daher innerlich sehr leere und bei derbem Zufassen zerbrechliche Begriffe; wenn die klassische Philologie jetzt wieder auf dieselben Begriffe zurückkommt, so sind es nur scheinbar noch die alten Schläuche; in Wahrheit ist alles neu geworden, Schlauch und Geist, Wein und Wort. Überall spürt man es, dass die Philologen fast ein Jahrhundert lang mit Dichtern, Denkern und Künstlern zusammengelebt haben. Daher kommt es, dass jener Aschen- und Schlackenhügel, der ehedem als das klassische Altertum bezeichnet wurde, jetzt fruchtbares, ja üppiges Ackerland geworden ist.

Und noch ein Zweites möchte ich jenen Freunden des Altertums zurufen, die von der klassischen Philologie sich missvergnügt abwenden. Ihr verehrt ja die unsterblichen Meisterwerke des hellenischen Geistes in Wort und Bild und wähnt euch um vieles reicher und beglückter als jede Generation, die sie entbehren musste: nun, so vergesst nicht, dass diese ganze zauberische Welt einstmals vergraben lag, überschüttet von berghohen Vorurteilen, vergesst nicht, dass Blut und Schweiß und die mühsamste Gedankenarbeit zahlloser Jünger unserer Wissenschaft nötig war, um jene Welt aus ihrer Versenkung empor steigen zu lassen. Die Philologie ist ja nicht die Schöpferin jener Welt, sie ist nicht die Tondichterin dieser unsterblichen Musik; aber sollte es nicht ein Verdienst sein und zwar ein großes, auch nur Virtuose zu sein und jene Musik zum ersten Mal wieder ertönen zu lassen, sie, die so lange unentziffert und ungeschätzt im Winkel lag? Wer war denn Homer vor der mutigen Geistestat Wolfs? Ein guter Alter, im besten Falle unter der Signatur «Naturgenie» bekannt, jedenfalls das Kind eines barbarischen Zeitalters, voller Verstöße gegen den guten Geschmack und die guten Sitten. Hören wir doch, wie noch 1783 ein vortrefflicher Gelehrter über Homer schreibt: «Wo hält sich doch der liebe Mann auf? Warum blieb er denn so lange incognito? A propos wissen Sie mir nicht eine Silhouette von ihm zu bekommen?«

Dankbarkeit fordern wir, durchaus nicht in unserem Namen, denn wir sind Atome – aber im Namen der Philologie selbst, die zwar weder eine Muse noch eine Grazie, aber eine Götterbotin ist; und wie die Musen zu den trüben, geplagten böotischen Bauern niederstiegen, so kommt sie in eine Welt voll düsterer Farben und Bilder, voll von allertiefsten und unheilbarsten Schmerzen und erzählt tröstend von den schönen, lichten Göttergestalten eines fernen, blauen, glücklichen Zauberlandes.

Soviel. Und doch müssen noch ein Paar Worte gesagt werden, noch dazu der allerpersönlichsten Art. Aber der Anlass dieser Rede wird mich rechtfertigen.

Auch einem Philologen steht es wohl an, das Ziel seines Strebens und den Weg dahin in die kurze Formel eines Glaubensbekenntnisses zu drängen; und so sei dies getan, indem ich einen Satz des Seneca also umkehre
«philosophia facta est quae philologia fuit.»

Damit soll ausgesprochen sein, dass alle und jede philologische Tätigkeit umschlossen und eingehegt sein soll von einer philosophischen Weltanschauung, in der alles Einzelne und Vereinzelte als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche bestehen bleibt. Und so lassen Sie mich hoffen, dass ich mit dieser Richtung kein Fremdling unter Ihnen sein werde, geben Sie mir die Zuversicht, dass ich, in dieser Gesinnung mit Ihnen arbeitend, im Stande sein werde, insbesondere auch dem ausgezeichneten Vertrauen, das mir die hohen Behörden dieses Gemeinwesens erwiesen haben; in würdiger Weise zu entsprechen. –

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Ein Vortrag von Friedrich Nietzsche in Basel/1869 Quelle: www.nietzschesource.org
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