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den Redaktoren erlaubte man sich Mattes und Störendes zuzuschieben. Diese ganze Hypothese ist die bedeutendste im Gebiete der Litteraturstudien, die das Altertum aufzuweisen hat; insbesondre ist die Anerkennung einer mündlichen Verbreitung Homers, im Gegensatz zu der Wucht der Gewohnheit eines büchergelehrten Zeitalters ein bewunderungswerter Höhepunkt antiker Wissenschaftlichkeit. Von jenen Zeiten bis zu denen Friedrich August Wolf’s muss man einen Sprung durch ein ungeheures Vakuum machen; jenseits dieser Grenze finden wir aber die Forschung genau wieder auf dem Punkte, an dem dem Altertume die Kraft zum Weiterschreiten ausgegangen war: und es ist gleichgültig, dass Wolf als sichere Tradition nahm, was das Altertum selbst als Hypothese aufgestellt hatte. Als das Charakteristische dieser Hypothese kann man bezeichnen, dass im strengsten Sinne Ernst gemacht werden soll mit der Persönlichkeit Homers, dass Gesetzmässigkeit und innerer Einklang in den Äusserungen der Persönlichkeit überall vorausgesetzt werden, dass man mit zwei vortrefflichen Nebenhypothesen alles als nichthomerisch wegwischt, was dieser Gesetzmässigkeit widerstrebt. Aber dieser selbe Grundzug, an Stelle eines übernatürlichen Wesens eine greifbare Persönlichkeit erkennen zu wollen, geht gleichfalls durch alle jene Stadien, die bis zu jenem Höhepunkte führen und zwar immer mit grösserer Energie und wachsender begrifflicher Deutlichkeit. Das Individuelle wird immer stärker empfunden und betont, die psychologische Möglichkeit eines Homers immer kräftiger gefordert. Gehen wir von jenem Höhepunkte schrittweise rückwärts, so treffen wir auf die Auffassung des homerischen Problems durch Aristoteles. Ihm gilt Homer als der makellose und unfehlbare Künstler, der sich seiner Zwecke und Mittel wohl bewusst ist: dabei zeigt sich aber in der naïven Hingabe an die Volksmeinung, die Homer auch das Urbild aller komischen Epen, den Margites zuteilte, noch ein Standpunkt der Unmündigkeit in historischer Kritik. Gehen wir von Aristoteles auch rückwärts, so nimmt die Unfähigkeit, eine Persönlichkeit zu fassen, immer mehr zu; immer mehr Gedichte werden auf den Namen des Homer gehäuft, und jedes Zeitalter zeigt seinen Grad von Kritik darin, wie viel und was es als Homerisch bestehen lässt. Man empfindet unwillkürlich bei diesem langsamen Zurückschreiten, dass jenseits Herodot eine Periode liege, in der eine unübersehbare Flut grosser Epen mit dem Namen Homers identifiziert worden sei.
Versetzen wir uns in das Zeitalter des Pisistratus: so umschloss damals das Wort »Homer« eine Fülle des Ungleichartigsten. Was bedeutete damals Homer? Offenbar fühlte sich jenes Zeitalter außer Stande, eine Persönlichkeit und die Grenzen ihrer Äusserungen wissenschaftlich zu umspannen. Homer war hier fast zu einer leeren Hülse geworden. Hier tritt nun die wichtige Frage an uns heran: was liegt vor dieser Periode? Ist die Persönlichkeit Homers, weil man sie nicht fassen konnte, allmählich zu einem leeren Namen verdunstet? Oder hat man damals in naïver Volksweise die gesammte heroische Dichtung verkörpert und sich unter der Figur Homers veranschaulicht? Ist somit aus einer Person ein Begriff oder aus einem Begriff eine Person gemacht worden? Dies ist die eigentliche »homerische Frage«, jenes zentrale Persönlichkeitsproblem.
Die Schwierigkeit, auf dieselbe zu antworten, vermehrt sich aber, wenn man von einer andern Seite aus, nämlich vom Standpunkte der erhaltenen Gedichte aus, eine Antwort versucht. Wie es heutzutage schwer ist und eine ernste Anstrengung erfordert, um die Paradoxie des Gravitationsgesetzes sich deutlich zu machen, dass nämlich die Erde ihre Bewegungsform ändert, wenn ein anderer Himmelskörper seine Lage im Raume wechselt, ohne dass zwischen beiden ein materielles Band besteht: so kostet es gegenwärtig Mühe, zum vollen Eindruck jenes wunderbaren Problems zu kommen, das aus Hand in Hand wandernd sein ursprüngliches höchst auffälliges Gepräge immer mehr verloren hat. Werke der Dichtung, mit denen zu wetteifern den größten Genien der Mut entsinkt, in denen ewig unerreichte Musterbilder für alle Kunstperioden gegeben sind: und doch der Dichter derselben ein hohler Name, zerbrechlich, wo man ihn anfasst, nirgends der sichere Kern einer waltenden Persönlichkeit. «Denn wer wagte mit Göttern den Kampf, den Kampf mit dem Einen?» sagt selbst Goethe, der, wenn irgend ein Genius mit jenem geheimnisvollen Problem der homerischen Unerreichbarkeit gerungen hat. Ueber dasselbe hinweg schien der Begriff der Volksdichtung als Brücke zu führen; eine tiefere und ursprünglichere Gewalt als die jedes einzelnen schöpferischen Individuums sollte hier tätig gewesen sein, das glücklichste Volk in seiner glücklichsten Periode, in der höchsten Regsamkeit der Phantasie und der poetischen Gestaltungskraft sollte jene unausmessbaren Dichtungen erzeugt haben. In dieser Allgemeinheit hat der Gedanke einer Volksdichtung etwas Berauschendes; man empfindet die breite übermächtige Entfesselung einer volkstümlichen Eigenschaft mit künstlerischem Behagen und freut sich dieser Naturerscheinung, wie man sich einer unaufhaltsam hinströmenden Wassermasse freut. Sobald man sich aber diesem Gedanken nähern und ins Angesicht schauen wollte, so setzte man unwillkürlich an Stelle der dichtenden Volksseele eine dichterische Volksmasse, eine lange Reihe von Volksdichtern, an denen das Individuelle nichts bedeutete, sondern in denen der Wogenschlag der Volksseele, die anschauliche Kraft des Volksauges, die ungeschwächteste Fülle der Volksphantasie mächtig war: eine Reihe von urwüchsigen Genien, einer Zeit, einer Dichtgattung, einem Stoffe zugehörig.
Aber eine solche Vorstellung machte mit Recht misstrauisch: sollte dieselbe Natur, die mit ihrem seltensten und köstlichsten Erzeugnisse, dem Genius, so karg und haushälterisch umgeht, gerade an einem einzigen Punkte in unerklärlicher Laune verschwendet haben? Hier kehrte nun die bedenkliche Frage wieder; ist nicht vielleicht auch mit einem einzigen Genius auszukommen und der vorhandene Bestand jener unerreichbaren Vortrefflichkeit zu erklären? Jetzt schärfte sich der Blick für das, worin jene Vortrefflichkeit und Singularität zu finden sei. Unmöglich in der Anlage der Gesamtwerke, sagte die eine Partei, denn diese ist durch und durch mangelhaft, wohl aber in dem einzelnen Liede, in dem Einzelnen überhaupt, nicht im Ganzen. Dagegen machte eine andere Partei für sich die Autorität des Aristoteles geltend, der gerade in dem Entwurfe und der Auswahl des Ganzen die »göttliche« Natur Homers am höchsten bewunderte; wenn dieser Entwurf nicht so deutlich hervortrete, so sei dies ein Mangel, der der Ueberlieferung, nicht dem Dichter zuzumessen sei, die Folge von Überarbeitungen und Einschiebungen, durch die der ursprüngliche Kern allmählich verhüllt worden sei. Je mehr die erstere Richtung nach Unebenheiten, Widersprüchen und Verwirrungen suchte, um so entschiedener warf die andere weg, was nach ihrem Gefühl den ursprünglichen Plan verdunkelte, um womöglich das ausgeschälte Urepos in den Händen zu haben. Es lag im Wesen der zweiten