Homer und die klassische Philologie - Page 2

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Ganzes denken, als Ganzes freudig ihn empfinden». Für diesen Mangel an Pietät und Verehrungslust, meint man wohl, müsse der Grund tiefer liegen: und viele schwanken, ob es den Philologen überhaupt an künstlerischen Fähigkeiten und Empfindungen fehle, so dass sie unfähig seien dem Ideal gerecht zu werden, oder ob in ihnen der Geist der Negation, eine destruktive bilderstürmerische Richtung mächtig geworden sei. Wenn aber selbst die Freunde des Altertums mit derartigen Bedenklichkeiten und Zweifeln den Gesamtcharakter der jetzigen klassischen Philologie als etwas durchaus fragwürdiges bezeichnen, welchen Einfluss müssen dann die Ausbrüche des «Realisten» und die Phrasen der Tageshelden bekommen? Letzteren zu antworten und an dieser Stelle dürfte im Hinblick auf den hier versammelten Kreis von Männern durchaus unzutreffend sein; wenn es mir nicht ergehen soll, wie jenem Sophisten, der in Sparta den Herakles öffentlich zu loben und zu verteidigen unternahm, aber von dem Rufe unterbrochen wurde: «Wer hat ihn denn getadelt?» Dagegen kann ich mich des Gedankens nicht entschlagen, dass auch in diesem Kreis hier und dort einige jener Bedenken nachklingen, wie sie gerade häufig aus dem Munde edler und künstlerisch befähigter Menschen zu hören sind, ja wie sie ein redlicher Philolog wahrhaftig nicht etwa in den dumpfen Momenten herabgedrückter Stimmung auf das quälendste zu empfinden hat. Für den Einzelnen gibt es auch gar keine Rettung vor dem vorher geschilderten Zwiespalt: was wir aber behaupten und bannerartig hoch halten, das ist die Tatsache, dass die klassische Philologie in ihrem grossen Ganzen nichts mit diesen Kämpfen und Betrübungen ihrer einzelnen Jünger zu thun hat. Die gesamte wissenschaftlich-künstlerische Bewegung dieses sonderbaren Zentauren geht mit ungeheurer Wucht, aber zyklopischer Langsamkeit darauf aus, jene Kluft zwischen dem idealen Altertum – das vielleicht nur die schönste Blüthe germanischer Liebessehnsucht nach dem Süden ist – und dem realen zu überbrücken; und damit erstrebt die klassische Philologie nichts als die endliche Vollendung ihres eigensten Wesens, völliges Verwachsen und Einswerden der anfänglich feindseligen und nur gewaltsam zusammengebrachten Grundtriebe. Mag man auch von Unerreichbarkeit des Zieles reden, ja das Ziel selbst als eine unlogische Forderung bezeichnen – das Streben, die Bewegung auf jener Linie hin ist vorhanden, und ich möchte es versuchen, einmal an einem Beispiel deutlich zu machen, wie die bedeutendsten Schritte der klassischen Philologie niemals vom idealen Altertum weg, sondern zu ihm hin führen, und wie gerade dort, wo man missbräuchlich vom Umsturz der Heiligtümer redet, nur eben neuere und würdigere Altäre gebaut worden sind. Prüfen wir also von diesem Standpunkte aus die sogenannte homerische Frage, dieselbe, von deren wichtigstem Problem Schiller geredet hat als von einer gelehrten Barbarei.

Mit diesem wichtigsten Problem ist gemeint die Frage nach der Persönlichkeit Homers.

Man hört jetzt allerwärts die nachdrückliche Behauptung, dass die Frage nach der Persönlichkeit Homers eigentlich nicht mehr zeitgemäss sei und von der wirklichen «homerischen Frage» ganz abseits liege. Nun darf man freilich zugeben, dass für einen gegebenen Zeitraum, also z. B. für unsre philologische Gegenwart das Zentrum der genannten Frage sich von dem Persönlichkeitsprobleme etwas entfernen könne: macht man doch gerade in der Gegenwart das sorgfältigste Experiment, die homerischen Dichtungen ohne eigentliche Beihilfe der Persönlichkeit, aber als das Werk vieler Personen zu konstruieren. Wenn man aber das Zentrum einer wissenschaftlichen Frage mit Recht dort findet, von wo sich der volle Strom neuer Anschauungen ergossen hat, also an dem Punkte, an dem die wissenschaftliche Einzelforschung sich mit dem Gesammtleben der Wissenschaft und der Kultur berührt, wenn man also nach einer kulturhistorischen Wertbestimmung das Zentrum bezeichnet, so muss man auch in dem Bereiche homerischer Forschungen bei der Persönlichkeitsfrage stehen bleiben, als dem eigentlich fruchtbringenden Kern eines ganzen Fragenzyklus. An Homer nämlich hat die moderne Welt einen großen historischen Gesichtspunkt, ich will nicht sagen gelernt, aber zuerst erprobt; und ohne schon hier meine Meinung darüber kund zu geben, ob diese Probe gerade an diesem Objekte mit Glück gemacht ist oder gemacht werden konnte, war doch damit das erste Beispiel für die Anwendung jenes fruchtbaren Gesichtspunktes gegeben. Hier hat man gelernt, in den scheinbar festen Gestalten älteren Völkerlebens verdichtete Vorstellungen zu erkennen, hier hat man zum ersten Male die wunderbare Fähigkeit der Volksseele anerkannt, Zustände der Sitte und des Glaubens in die Form der Persönlichkeit einzugiessen. Nachdem die geschichtliche Kritik sich mit voller Sicherheit der Methode bemächtigt hat, scheinbar konkrete Persönlichkeit verdampfen zu lassen, ist es erlaubt, das erste Experiment als ein wichtiges Ereigniss in der Geschichte der Wissenschaften zu bezeichnen, ganz abgesehen davon, ob es in diesem Falle gelungen ist.

Es ist der gewöhnliche Verlauf, dass einem epochemachenden Funde eine Reihe auffälliger Vorzeichen und vorbereitender Einzelbeobachtungen voranzugehen pflegen. Auch das genannte Experiment hat seine anziehende Vorgeschichte, aber in einer erstaunlich weiten zeitlichen Entfernung. Friedrich August Wolf hat genau dort eingesetzt, wo das griechische Altertum die Frage aus den Händen fallen liess. Der Höhepunkt, den die literarhistorischen Studien der Griechen und somit auch das Zentrum derselben, die Homerfrage, erreichten, war das Zeitalter der grossen alexandrinischen Grammatiker. Bis zu diesem Höhepunkte hat die homerische Frage die lange Kette eines gleichförmigen Entwicklungsprocesses durchlaufen, als deren letztes Glied, zugleich als das letzte, dass dem Altertum überhaupt erreichbar war, der Standpunkt jener Grammatiker erscheint. Sie begriffen Ilias und Odyssee als Schöpfungen des einen Homer: sie erklärten es für psychologisch möglich, dass Werke so verschiedenen Gesammtcharakters einem Genius entsprungen seien, im Gegensatz zu den Chorizonten, die die äußerste Skepsis zufälliger einzelner Individualitäten des Altertums, nicht des Altertums selbst bedeuten. Um den verschiedenen Totaleindruck der beiden Epen bei der Annahme eines Dichters zu erklären, nahm man die Lebensalter zu Hülfe und verglich den Dichter der Odyssee mit der untergehenden Sonne. Für Diversitäten des sprachlichen und gedanklichen Ausdrucks war das Auge jener Kritiker von unermüdlicher Schärfe und Wachsamkeit; zugleich aber hatte man sich eine Geschichte der homerischen Dichtung und ihrer Tradition zurecht gelegt, nach der diese Diversitäten nicht Homer, sondern seinen Redaktoren und Sängern zur Last fielen. Man dachte sich die Gedichte Homers eine Zeit lang mündlich fortgepflanzt und den Unbilden improvisierender mitunter auch vergesslicher Sänger ausgesetzt. In einem gegebenen Zeitpunkte, in der Zeit des Pisistratus sollten die mündlich fortlebenden Fragmente buchmäßig gesammelt sein; aber

Veröffentlicht / Quelle: 
Ein Vortrag von Friedrich Nietzsche in Basel/1869 Quelle: www.nietzschesource.org

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