Von den drei Verwandlungen

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von Friedrich Nietzsche

Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe.

Vieles Schwere giebt es dem Geiste, dem starken, tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach dem Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke.

Was ist schwer? so fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder, dem Kameele gleich, und will gut beladen sein.

Was ist das Schwerste, ihr Helden? so fragt der tragsame Geist, dass ich es auf mich nehme und meiner Stärke froh werde.

Ist es nicht das: sich erniedrigen, um seinem Hochmuth wehe zu thun? Seine Thorheit leuchten lassen, um seiner Weisheit zu spotten?

Oder ist es das: von unserer Sache scheiden, wenn sie ihren Sieg feiert? Auf hohe Berge steigen, um den Versucher zu versuchen?

Oder ist es das: sich von Eicheln und Gras der Erkenntniss nähren und um der Wahrheit willen an der Seele Hunger leiden?

Oder ist es das: krank sein und die Tröster heimschicken und mit Tauben Freundschaft schliessen, die niemals hören, was du willst?

Oder ist es das: in schmutziges Wasser steigen, wenn es das Wasser der Wahrheit ist, und kalte Frösche und heisse Kröten nicht von sich weisen?

Oder ist es das: Die lieben, die uns verachten, und dem Gespenste die Hand reichen, wenn es uns fürchten machen will?

Alles diess Schwerste nimmt der tragsame Geist auf sich: dem Kameele gleich, das beladen in die Wüste eilt, also eilt er in seine Wüste.

Aber in der einsamsten Wüste geschieht die zweite Verwandlung: zum Löwen wird hier der Geist, Freiheit will er sich erbeuten und Herr sein in seiner eignen Wüste.

Seinen letzten Herrn sucht er sich hier: feind will er ihm werden und seinem letzten Gotte, um Sieg will er mit dem grossen Drachen ringen.

Welches ist der grosse Drache, den der Geist nicht mehr Herr und Gott heissen mag? „Du-sollst“ heisst der grosse Drache. Aber der Geist des Löwen sagt „ich will“.

„Du-sollst“ liegt ihm am Wege, goldfunkelnd, ein Schuppenthier, und auf jeder Schuppe glänzt golden „Du sollst!“

Tausendjährige Werthe glänzen an diesen Schuppen, und also spricht der mächtigste aller Drachen: „aller Werth der Dinge — der glänzt an mir.“

„Aller Werth ward schon geschaffen, und aller geschaffene Werth — das bin ich. Wahrlich, es soll kein „Ich will“ mehr geben!“ Also spricht der Drache.

Meine Brüder, wozu bedarf es des Löwen im Geiste? Was genügt nicht das lastbare Thier, das entsagt und ehrfürchtig ist?

Neue Werthe schaffen — das vermag auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen — das vermag die Macht des Löwen.

Freiheit sich schaffen und ein heiliges Nein auch vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des Löwen.

Recht sich nehmen zu neuen Werthen — das ist das furchtbarste Nehmen für einen tragsamen und ehrfürchtigen Geist. Wahrlich, ein Rauben ist es ihm und eines raubenden Thieres Sache.

Als sein Heiligstes liebte er einst das „Du-sollst“: nun muss er Wahn und Willkür auch noch im Heiligsten finden, dass er sich Freiheit raube von seiner Liebe: des Löwen bedarf es zu diesem Raube.

Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? Was muss der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden?

Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.

Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.

Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kameele ward, und zum Löwen das Kameel, und der Löwe zuletzt zum Kinde. — —

Also sprach Zarathustra. Und damals weilte er in der Stadt, welche genannt wird: die bunte Kuh.

Veröffentlicht / Quelle: 
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Also sprach Zarathustra, Die Reden Zarathustras, München 1954, Band 2, S. 293-295.

Akademische Interpretation von Friedrich Nietzsches „Von den drei Verwandlungen“

Friedrich Nietzsches „Von den drei Verwandlungen“, ein Abschnitt aus seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ (1883–1885), ist ein zentraler Text seiner Philosophie. Hier beschreibt Nietzsche metaphorisch die Entwicklung des menschlichen Geistes in drei Stadien: Kamel, Löwe und Kind. Diese Allegorie thematisiert die Überwindung von Fremdbestimmung hin zu schöpferischer Freiheit. Eine akademische Interpretation untersucht diese Verwandlungen im Kontext von Nietzsches Konzepten des Übermenschen, des Willens zur Macht und der Kritik an traditionellen Werten.


1. Das Kamel: Der Geist der Unterordnung

Das Kamel symbolisiert die erste Phase der geistigen Entwicklung, in der der Mensch fremden Autoritäten und etablierten Werten gehorcht. Nietzsche beschreibt das Kamel als „tragsamen Geist“, der sich freiwillig den schwersten Lasten unterwirft, um seine Stärke zu erproben. Diese „Lasten“ stehen metaphorisch für die moralischen und religiösen Dogmen der Gesellschaft, die der Mensch internalisiert. Beispiele hierfür sind Demut, Verzicht und die Akzeptanz von Leiden als notwendiger Teil des Lebens.

Diese Phase ist notwendig, da der Geist in seiner ursprünglichen Form nicht unabhängig ist. Er benötigt eine Periode der Disziplin und Hingabe, um sich auf spätere Transformationen vorzubereiten. Nietzsches Kritik richtet sich hier gegen die Unterordnung unter universelle Werte, die den Willen zur Selbstverwirklichung unterdrücken. Das Kamel repräsentiert daher die Anpassung an die bestehenden gesellschaftlichen und religiösen Normen.


2. Der Löwe: Der Geist der Rebellion

Die zweite Verwandlung, der Löwe, steht für die Phase der Rebellion. Der Geist wird hier zum Kämpfer, der sich von den auferlegten Werten befreien will. Das zentrale Motiv ist der Kampf gegen den „großen Drachen“, der „Du-sollst“ heißt. Der Drache verkörpert die traditionellen, absoluten Werte, die Nietzsche kritisiert. Der Löwe sagt „Ich will“ und stellt damit ein Nein-Sagen zu diesen vorgegebenen Normen dar.

Nietzsche betont jedoch, dass der Löwe allein nicht ausreicht. Der Löwe zerstört alte Werte, ist aber noch nicht in der Lage, neue Werte zu schaffen. Er repräsentiert die Freiheit zur Selbstverwirklichung, aber noch nicht deren tatsächliche Verwirklichung. Hier zeigt sich Nietzsches Verständnis von Freiheit als etwas, das erkämpft werden muss – nicht als bloße Abwesenheit von Zwang, sondern als aktive Selbstermächtigung.


3. Das Kind: Der Geist der Schöpfung

Die letzte Verwandlung des Geistes, das Kind, symbolisiert die schöpferische Phase. Das Kind verkörpert Unschuld, Neuanfang und die Fähigkeit, neue Werte zu schaffen. Nietzsche beschreibt das Kind als „ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad“. Es sagt „Ja“ zum Leben und übernimmt die Verantwortung, die Welt nach eigenen Vorstellungen zu gestalten.

Das Kind ist frei von der Last der Vergangenheit und der Verpflichtung gegenüber alten Werten. Es lebt im Augenblick und steht für die kreative Kraft, die Nietzsche als essenziell für den Übermenschen betrachtet. In diesem Stadium tritt der Geist in einen Zustand der affirmativen Schöpfung ein, in dem er nicht nur frei ist, sondern diese Freiheit aktiv nutzt, um neue Bedeutungen und Werte zu schaffen.


Philosophischer Kontext

Nietzsches Gleichnis von den drei Verwandlungen ist tief in seinem Gesamtwerk verwurzelt:

  1. Kritik an der Moral: Das Kamel und der Drache spiegeln Nietzsches Kritik an der traditionellen Moral wider, die er als repressiv und lebensfeindlich ansieht. Der Mensch muss diese überwinden, um seinen eigenen Willen zur Macht zu entfalten.

  2. Willensfreiheit und Schöpfung: Der Löwe und das Kind verkörpern Nietzsches Konzept der Willensfreiheit und den kreativen Akt der Wertebildung, der für den Übermenschen zentral ist.

  3. Ewige Wiederkunft: Das Kind steht in Verbindung mit Nietzsches Idee der ewigen Wiederkunft, da es für einen Zustand steht, in dem der Mensch das Leben in all seinen Facetten bejaht.

  4. Übermensch: Die Verwandlungen bereiten den Weg für den Übermenschen, Nietzsches Ideal des Menschen, der sich selbst überwindet und über die Begrenzungen der herkömmlichen Moral hinausgeht.


Fazit

Das Gleichnis von den drei Verwandlungen illustriert den Weg des Menschen zur Selbstverwirklichung und schöpferischen Freiheit. Nietzsche zeigt, dass die Entwicklung des Geistes ein Prozess der Selbstüberwindung ist, der von Unterordnung (Kamel) über Rebellion (Löwe) zur Schöpfung (Kind) führt. In diesem Gleichnis offenbart sich Nietzsches Vision eines neuen, freien und kreativen Menschen, der sich von äußeren Zwängen befreit und sein Leben nach eigenen Werten gestaltet.

Die drei Verwandlungen stehen somit exemplarisch für Nietzsches zentrale philosophische Anliegen: die Überwindung des Nihilismus und die Schaffung eines affirmativen Lebenssinns.

 

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