Hund im Glas / Ein Text über Zürich

Bild von Klaas Klaasen
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Als mein längeres Bein, in voller Länge ausgestreckt, den ersten Schritt auf dem Bahnsteig des Hauptbahnhofs von Zürich unternahm, wusste das kürzere, das linke, noch nicht, was ihm bevorstand! Woher auch? Ging es doch da von aus, wie einfach es war in Großtädten wie Hamburg, München, Wien, London oder Paris und in all den anderen großen Heimathäfen,  schon beim ersten Anlauf Kontakte zu finden. Hätte mein linkes Bein geahnt, wie mühsam es werden würde, den einen Schweizer oder die andere Schweizerin kennenzulernen, wäre es hüpfend dem Iängeren rechten vorausgeeilt, mit dem Ziel, dem rechten, dem Iängeren eben, ein Bein zu stellen, so dass einem Aufenthalt in einer Klinik und einer verdienten Ruhepause nichts, aber auch gar nichts mehr im Wege gestanden hätte. Denn, glaubt es nur, meine wundgelaufenen Füße und abgelatschten Schuhe sind das Ergebnis meiner Suche nach Gesprächen mit offenen, neugierigen Zürcher/inne/n. Doch diese harren wie Füchse in ihrem Bau, jeden Kontakt scheuend, außer ein Fressnapf steht vor dem Bau, fertig gekocht und abgeschmeckt; das lockt so manchen Fuchs und manche Füchsin vor die Tür, wenn der Hunger treibt und quält - ansonsten Stille, Einöde, einsamer Sommernachtstraum. Für einen wie mich, bei dem sich lange Zeit innerlich etwas dagegen sperrte, die Schweiz zu besuchen, aus welchen Gründen auch immer, ist dieser unsichtbare, doch spürbare Käfig aus Schweigen nicht leicht zu ertragen. Würde ich an dieser Stelle die Gründe näher erläutern, müsste ich wohl einen Verlag finden, der bereit wäre, Ein Buch von 1500 Seiten zu drucken, denn dies wäre in etwa das Ausmaß, dessen ich bedürfte, um verstanden und gleichermaßen dem gerecht zu werden, was mir nunmehr seit geraumer Zeit auf der Zunge brennt.

Doch ich erachte dieses mühselige Unterfangen als müßig, denn welcher Verlag hat ein Interesse, ein Buch dieses Ausmaßes über den unsichtbaren Zürcher Käfig und dessen Auswirkungen auf Verstand und Charakter seiner Bewohner/innen zu publizieren.
Ich habe dieses Vorhaben gut schweizerisch ein für allemal in Zeit und Stille begraben. Meine Gefühle dieser Stadt gegenüber aber, die ich noch immer zu erklären versucht bin, waren himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt in einem. Ja, so in etwa war mein Zustand, als ich in Zürich, der Weltmetropole, der Mutterstadt, dem Mekka des Käses und der Schlagfertigkeit eines Uhrwerkes, ankam.

Trotz meiner mir im Nacken hockenden Gefühlsrhythmusstörung, mit reichlich Gepäck an Erfahrungen, aber noch voller Hoffnung, machte ich mich auf den Weg, den einen oder anderen Zürcher kennenzulernen, mit Ihnen zu klönen, zu tratschen, neue Erfahrungen zu machen.  Ich hoffte, andere Erinnerungsstücke als kleine Goldbarren und Truffes du jour, mitnehmen zu können auf meiner Suche nach neuen oder gar neugeistigem Reichtum. Nach wenigen Tagen Aufenthalt in Zürich platzte mir der Schädel: Ich sah mich tatsächlich mich immer mehr zu einem Individuum entwickeln, das zu Selbstgesprächen verurteilt ist. Zum ersten Mal spürte ich, wie sich meine Lippen aus reiner Not verselbständigten. Dabei bin ich gar nicht der typische Einsiedlerkrebs. Im Gegenteil: Manche meiner Bekannten, die ich in den vergangenen Wanderjahren hier und dort kennen und lieben lernte, waren sogar erlelchtert, wenn Ich Ihnen jeweils mitteilte, dass es nun wieder auf die Reise gehe, konnten sie sich doch endlich etwas von den langen Gesprächen mit mir erholen. Obwohl es mir die Zürcher/innen nicht leicht machten, aufgeben wollte ich um keinen Preis. Also drängte ich mich, auch wenn es oftmals im ersten Moment nicht gerne gesehen wurde, bei dem einen oder der anderen auf, hinein, und siehe da: Schneeschweizchen lässt sich aufwecken! Doch leider endeten meine Zürcher Geschichten meist nicht so, wie es das Grimm'sche Märchen vorsieht. Warum? Schwer zu sagen, ist doch jede/r Schweizer/in ein Original, nicht fälschbar! Und doch sind gewisse Parallelen zu erkennen bei den Schweizer Bürger/inne/n, die ich hier in Zürich und Agglomeration kennenlernen durfte und auch weitgehend schätze. Als erstes wäre wohl die gier nach Arbeit und Rechtschaffenheit, nach dem Franken und dem Glitzer, das eingeschränkte, abgekapselte Denken, Handeln und Leben zu nennen. Dann aber auch und vor allem die grauslig kreisende Angst, vor allem gegenüber den AusIänder/inne/n, gleich welcher Nation sie auch immer angehören mögen. Woher diese Angst nur kommt? Sind sich die Zürcher/innen überhaupt bewusst, dass uns Fremden diese Angst sichtbar ins Auge fällt?

Dieses Misstrauen allem Fremden gegenüber, trägt kaum zu optimaler Verständigung bel. Aber was wäre Zürich ohne neue Gedanken, frische Ideen, die nun einmal auch von ausländischen Gästen, Künstlerinnen, Gastarbeitern und Studentinnen kommen? Gerade die Schweizer Künstler/innen scheinen jedoch nicht gerade offen für Neues und sind nur ungern bereit dazuzulernen. Das System homogener Kunst-Kuchen und Klüngel ist in Zürich wie überall in der Schweiz sehr ausgeprägt. Mir scheint, dass viele Kunstschaffende voller Stolz einem gewissen ausgesuchten Mafiaküchlein angehören und angehören wollen. Die haben wohl als Kind versäumt, Schneewittchen zu lesen. Sonst wüssten sie, wie schnell ein gut aussehender Apfel stumm machen kann. Die hiesigen Künstler/inne/n scheinen sich in eben dieser Stummheit zu gefallen. Was mich hier in Zürich darüber hinaus immer wieder an einen unsichtbaren Käfig gemahnt, ist die Sperrstunde. Hat die Uhr einmal zwölf geschlagen, raufen sich bei mir die Haare: Wohin, wenn der Hunger einen treibt? Amüsant wird es jeweils dann, wenn ich als Fremder im Niederdorf angesprochen werde: ?Hoi, weisch wo da no Öppis offe hät?- Natürlich weiss ich mittlerweile, wo noch was offen hat, aber in diesen Lokalitäten geht eine Stange zum Preis eines Cüplis über den Tresen. Die Not hat jedoch auch ihre guten Seiten, entstehen doch so versteckte - beinah wollt ich sagen Katakomben-Bars, in denen sich mancherlei Gestalten ein Stelldichein geben. Mir verschlägt es, weiss Gott, die Sprache, wenn ich mitansehen muss, mit welcher Kraft einige Zürcher/innen um ihren Lebens und Wohnraum kämpfen müssen, und wie wiederum andere Bewohner/innen dieser Stadt kopfschüttelnd vorbeilaufen, ja sogar verständnislos und vorschnell Urteile über diese fällen. Abend für Abend quälen sich viele, gerade auch jüngere Menschen, vom Platzspitz bis ins Niederdorf hinein, ziellos, perspektivlos, ohne zu wissen wohin.Ich spüre die Enge, der Platz reicht nicht aus . . .Auch an dieser Stelle nicht, um alles, was gesagt werden müsste, zu beschreiben. So auf ein schnelles Wort: Vielleicht wird eines Tages das japanische Projekt - ein Sarg reicht zum Schlafen - auch hier in Zürich seine Anhänger/innen finden. So weit hergeholt scheint das meiner Meinung nach nicht, steigen doch die Zürcher Bodenpreise weiterhin ins Unermessliche und somit auch der Schlafsack. Ganz zu schweigen vom Verkehrschaos und den Baustellen In und umzu. Selbst ein Dali hätte wohl auf Surrealismus verzichtet und sich einer neuen Kunstrichtung zugewandt, hätte er eine solche Vorlage vor der eigenen Tür gehabt. Wer kann da noch atmen, hören, vor allem nicht stolpern? Vielleicht Iiegt es aber auch an der Obrigkeit, die, wie ich mir habe sagen lassen, noch nie etwas von einem zweiten oder dritten Gang gehört hat. So wird weiterhin im ersten Gang gemahlen. Bleibt als letztes noch der Scherz im Schmerz. Ich sitze im Bahnhofsrestaurant morgens um sechs, ohnmächtig von den Erlebnissen hier und umzu und bestelle mit leerem, müdem Kopf: ” Bitte, einmal Hund im Glas.“ Worauf die Serviertochter wortgewandt meint: ”Mit Bellen oder ohne?“

Veröffentlicht / Quelle: 
Erstveröffentlichung in "Nizza Illustrierte" 1991

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