Akt[en]studie

Bild von Mitch Cohen
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Einzeltische aus Resopalplatten, große Fenster an einer Seite, nüchterne Beleuchtung, Linoleumboden. Ich fühlte mich in ein kalifornisches Klassenzimmer zurückversetzt. Alle gauckten grimmig in ihre Ordner. Von Leitz. Wie viele Devisen benötigte die Stasi, um sich nicht nur mit Schreiberzeugnissen aus der DDR begnügen zu müssen?

Ich hatte gut lachen. Die anderen, ehemalige DDR-Bürger, waren jahrelang den Denunziationen durch die Verfasser der nun vor ihnen liegenden Papiere wehrlos ausgeliefert; als ehemaliger Grenzgänger aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet (früher dachte ich, “NSW” stünde für Himmelsrichtungen), hatte ich mich freiwillig, “auf Urlaub”, dem Risiko ausgesetzt.  Beruf oder Studium standen nicht gänzlich auf dem Spiel. Ich wurde nicht verhaftet, nur irgendwann mit “Einreisesperre” belegt – bis zum 31.12.99, soweit wie der Datumsstempel sich eben drehen ließ.

Vielleicht ging manchen in dem Zimmer ein Licht auf. Ich hatte mich über den realen Existiermus nie irgendwelchen Illusionen hingegeben, ausgenommen seine Lebenserwartung, für mich bedeutete Akteneinsicht kein Abschiednehmen von politischen Träumen. Was ich in meiner Akte zu entdecken fürchtete war etwas anders und zwar dreierlei.

Erstens: Keiner Bespitzelung wert?

Was, wenn es sich herausstellte, daß Sascha Anderson nicht über mich berichtet hatte? Jahrelang Besuche bei und Zusammenarbeit mit Bert Papenfuß bedeuteten, daß ich öfter auch mit Sascha zusammenkam. Ich hatte ihn nie verdächtigt. Und trotzdem: was mich an Biermanns Enthüllungen überraschte, war, daß ich nicht überrascht war. Sascha hatte ich wohl als Gauner eingeschätzt, auch wenn ich es für mich nie klar formulierte, und ich hatte ihn trotzdem gemocht. Verdammich: irgendwie noch immer. Mich jetzt plötzlich darüber zu entrüsten wäre lächerlich, verlogen. Bis ich meine Akte endlich bekam, verstrich noch viel Zeit: daß Sascha kaum ein Sujet seiner unwürdig fand, war inzwischen unstrittig. Die bloße Tatsache, daß er auch über mich berichtet hatte, könnte in mir kein neues Gefühl von Verrat auslösen. Über die möglichen Details solcher Berichte hatte ich noch nicht nachgedacht. Aber ich hatte einen Komplex:

Jahrelang hatte ich Risiken und Kosten auf mich genommen, um Manuskripte von vermeintlichen DDR-Freunden in den Westen zu schleusen und ihnen Bücher und andere unzugängliche Genuß- und Bewußtseinserweiterungsmittel zu bringen. Jahrelang hatten sie gefragt: “Wann kommst Du wieder?” Doch später, als ich immer noch “Einreisesperre” hatte und sie inzwischen mit DDR-Reisepaß ausgestattet oder gar in den Westen umgesiedelt waren, nahmen sie den Kontakt nicht wieder auf. Papenfuß erwiderte nicht einmal meinen Gruß, als ich zu seiner Lesung ins Literaturhaus kam.

Hatte ich ihnen die ganze Zeit nur als Kurier und Vitamin B, sprich nützlicher Idiot gedient? Was wäre mit meiner zusätzlich verletzten Eitelkeit erst, wenn nicht mal der beflissenste Spitzel sich für mich interessiert hätte?

Zweitens: Wer noch?

Und wenn sich herausstellte, daß ein noch nicht enttarnter ehemaliger Freund oder Bekannter ein Spitzel war? Neben Sascha und den Grenzern machte ich in meiner Akte zwei Primärquellen aus. Erkennbar ist aber weder der Spitzel im Westberliner Schriftstellerverband noch mein Wohnbereichschnüffler. Sie arbeiteten sozialistisch, untauglich, übererfüllten ihr Soll mit Umdichtungen und Halbwahrheiten.

Drittens: Niederschmetternde Beurteilung?

Von Denunziationen – hinterm Rücken Gesagtem – darf man Schmeichelhaftes nicht erwarten. Mir schwebte als Warnung F vor, der in einer Tischgesellschaft erzählt hatte, sein IM habe ihn als Großmaul mit nichts dahinter beschrieben, als Name-Dropper, als sofort durchschaubaren Hochstapler, als Trottel. Niemand widersprach. Wir kannten ihn ja. Einer fragte F, wie er nun mit dieser Entdeckung umgehe.

Mit vorauseilender Scham stählte ich mich also gegen ähnlich abwertende Einschätzungen, die vielleicht auch in meiner Akte stehen könnten.

Hausbesuch

Das einzig Beleidigende in meiner Akte kam von dem Unbekannten, der über meine Wohn- und Lebensverhältnisse berichtet hatte: “Gemeinsam mit der W. besucht er in den Abendstunden die Gaststätten ‘Trödler Stübchen’... und ‘Außergewöhnlich’...” Mir wurde unterstellt, ich würde die Tür zu einer Kneipe mit solchem Namen aufmachen! Aber diese Stampen hat es nie gegeben. Ich habe mir das Haus Bergmannstraße 105 eigens angeschaut – da kann es nie eine Kneipe gegeben haben.

Das einzig Beleidigende? Wie weit ist es denn mit mir gekommen, wenn ich ohne Scham über mich und meine Damalige lesen kann: “Besucht werden sie öfters von jüngeren weiblichen und männlichen Personen (20 – 30 Jahren). Einige dieser Personen sind modern und sportlich gekleidet und haben ein gepflegtes Aussehen. Ein anderer Teil ist ‘gammlig’ gekleidet und hat ein ungepflegtes Äußeres. Namentlich sind diese Personen nicht bekannt. Der C. und die W. selbst hinterlassen äußerlich ebenfalls den Eindruck von ‘Gammlern’.”

Es sage keiner, aus unserem Dorf sei nichts aufregendes zu berichten, nachdem er vom ausländischen Roué liest, der die Unschuld vom Lande ruiniert: “Die W. ist 1975 gemeinsam mit einer Freundin... nach Westberlin gekommen... Sie waren beide Krankenschwestern (fast richtig recherchiert – Krankengymnastinnen waren sie) und übten diese Tätigkeit in einem Krankenhaus in Westberlin aus. Beide waren höflich, zuvorkommend und hilfsbereit gegenüber den Bewohnern. Sie gingen sauber und jugendlich-sportlich gekleidet. Fast monatlich machten sie Anschaffungen für ihre Wohnung.”

Vorbildliche WerktätigInnen – und das ohne den Vorteil einer sozialistischen Sozialisation. Und dann schlägt der C. zu: “Anfang 1977 war die Freundin der W. nicht mehr zu sehen. Gegenüber den Hausbewohnern sagte die W., daß ihre Freundin sich kurzfristig entschieden hätte nach Westdeutschland zurückzugehen.” Und die westliche Behörden ließen nicht einmal die Bahnhofsschließfächer nach einer zerstückelten Leiche durchsuchen.

Unser Meistererzähler steigert die Spannung noch, indem er dem nächsten Satz einen eigenen, deutlich durch Leerzeilen vom übrigen Text getrennten Absatz widmet:

“Einige Wochen später zog der C. zu der W.”

Und was richtet der C. hier gleich an? Eines wissen wir schon: die jugendlich-sportliche W. vergammelt. Doch sogar das verblaßt zur Bagatelle, denn: “Seit dieser Zeit ging sie ihrer Tätigkeit als Krankenschwester nicht mehr nach.” Ein Wirtschaftsschädling, der nicht auf den Osten übergreifen darf! “Sie hielt sich am Tage sehr oft mit dem C. in der Wohnung auf. Erst seit Mitte 1978 verlassen beide am Tage die Wohnung...” Anfang 1977 bis Mitte 1978, anderthalb Jahre ohne einen Schritt aus der Wohnung – die Details überläßt der Berichterstatter der Fantasie des Lesers und bleibt uns leider die Erklärung schuldig, ob etwa jemand dem Gammelpaar Lebensmittel durch den Briefschlitz reichte oder ob es vorher Vorräte angelegt hatte.

Kein Wunder, wenn ein solcher Mädchenschänder das Licht scheut: “Auffällig ist, daß der C. nie im Wohnbereich in Erscheinung tritt und sich im Haus

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