Das Antlitz des Tigers

Bild von Magnus Gosdek
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Wenn Christian sich gern an etwas erinnerte, dann war es der Augenblick, an dem die Girlande Feuer fing. Nicht, dass er damit eine unterdrückte Neigung als Brandstifter auslebte. Es war der Moment, der die Absurdität des gesamten Abends in Flammen aufgehen ließ und den Strand im lodernden Schein des Feuers von all den Ereignissen der vorherigen Stunden rein wusch.
Dabei gab es niemanden, dem er hierfür wirklich die Schuld geben konnte. Nicht Karin, nicht Winton und erst recht nicht Ulla. Sie alle handelten ihrer Natur entsprechend und das galt auch für Christian. Die Dinge passierten einfach, aber so schien es in seinem ganzen Leben zu sein. Manchmal fragte sich Christian, warum überhaupt von einem freien Willen gesprochen wurde, wenn er ohnehin keinen Einfluss auf die Ereignisse nehmen konnte.
Immerhin aber erinnerte er sich an den Verlauf des Abends und wenn er sich Mühe gab, wusste er auch, womit es begonnen hatte. Wenigstens ungefähr. Alles hatte mit Ullas provozierender Frage zu tun.
„Warum willst du denn nicht mitkommen?“
Christian hätte antworten können, dass er keine Lust auf das Sommerfest verspürte. Er hätte erklären mögen, dass er Lars, den Gastgeber, nicht leiden konnte und keinen Drang verspürte, einen gemeinsamen Abend mit ihm zu verbringen. Wahrscheinlich hätte Ulla es verstanden, aber ganz sicher nicht zufrieden gestellt. Immerhin wollten sie zu viert zu der Party am See.
„Wir können jederzeit wieder gehen, wenn es uns nicht gefällt“, hätte Ulla wahrscheinlich erwidert und Christian in weitere Erklärungsnot gebracht. Ulla war eine sehr agile Frau und nichts kostete Christian so viel Kraft, wie unausgegorene Begründungen, von denen er wusste, dass sie letztendlich nichts nützten. Ulla würde die Notwendigkeit, der Feier fern zu bleiben, nicht erkennen. Natürlich würde sie seine Entscheidung akzeptieren, doch hätte sie Christian das Gefühl gegeben, sie irgendwie zu enttäuschen.
Ulla und Christian waren miteinander befreundet. Sie wohnten nur zwei Straßen auseinander und sahen sich häufig. Meist kam Ulla vorbei. Sie mochte die freie Entscheidung und dies bezog sich auch auf die Frage, wann sie wieder gehen wollte. Doch machte sie auf Christian nie den Eindruck, den unbedingten Drang danach zu verspüren. Im Gegenteil, sie besuchte Christian gerne, zumal beide ähnlich dachten. Ulla war eine fanatische Leserin und gab tolle Tipps für Bücher, die Christian allesamt gefielen. In dieser Beziehung vertraute er Ulla vorbehaltlos.
Das war für ihn nicht normal. Auch wenn Christian offen wirkte, hielt er sich Menschen doch auf Abstand. Er traute ihnen nicht restlos. Ihre egoistischen Beweggründe mochten im Verborgenen liegen, doch gab es sie und Christian wurde nicht müde, ihnen nachzuspüren.
Ulla aber gab sich ihm gegenüber durchweg positiv. Sie strahlte eine unterschwellige Heiterkeit aus, die in keiner seiner Theorien Platz fand. Diese Stabilität ihrer Stimmung verunsicherte ihn, was Christian schließlich davon überzeugte, dass dieses Verhalten ebenso seltsam sein mochte, wie all die emotionalen Schwankungen, denen er für gewöhnlich begegnete. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es jemanden geben sollte, den die Außeneinflüsse nicht gelegentlich aus der Fassung brachten. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass Ulla all die Bedrängnisse in sich hinein fressen und in ihrem Herzen traurig sein musste. Christian konnte nicht entscheiden, ob ihm es möglich war, ihr diese Einsamkeit zu nehmen oder er es überhaupt wollte. Ulla war für ihn nicht greifbar.
Im Grunde bedurfte es keiner weiteren Erläuterung, warum er nicht mit zu der Sommerparty fahren wollte. Die beiden waren nicht verheiratet, sie waren noch nicht einmal ein Paar. Doch Christian empfand Ulla gegenüber eine scheue Ehrfurcht. Abgesehen von ihrer entschlossenen Heiterkeit wirkte sie auf ihn durchweg ausgeglichen und wenn er sie ansah, entsprach sie seiner Vorstellungen einer dreißig jährigen Frau, die sich in den Anforderungen des Lebens stellte. Das war mehr, als er von sich behaupten konnte und Christian fragte sich, warum Ulla sich überhaupt mit ihm abgab.
Er hatte also keine sinnvolle Antwort auf Ullas Frage, warum er nicht mitkommen wolle. Aber vielleicht fiel sie ihm ja noch ein, wenn er Zeit gewann.
„Wer wird denn da sein?“ fragte er deshalb.
„Eine Menge Leute“, sagte Ulla.
Ullas Welt teilte sich in grundlegende Mengeneinheiten. Es gab viel und es gab wenig, ebenso handhabte sie es bei ihren Beurteilungen. Sie kannte Megageil und es gab Riesenmist. In dieser Beziehung mochte sie keine Minimierung. Jedenfalls war Ulla entscheidungsfreudig. Grauzonen, wie Christian sie bevorzugte, mied sie und dies mochte einer der Gründe sein, dass der Mann sich von Ullas entschlossener Art überfordert fühlte.
„Winton und Karin holen uns gleich ab“, sagte sie.
Ulla und Christian kannten Karin von der Fachhochschule, an der sie sich in einem betriebswirtschaftlichen Abendstudium weiterbildeten. Sie waren im gleichen Semester und saßen in denselben Vorlesungen.
Christian hatte das Studium allein begonnen. Eines der ersten Dinge, die er lernte, war die Erkenntnis, dass eine Lerngruppe Sinn machte. Es erleichterte die Disziplinierung und bereitete darüber hinaus mehr Vergnügen, als sich alleine durch die Kurse zu kämpfen. Da Ulla und er so dicht beieinander wohnten, fanden sie in dieser Beziehung schnell zusammen. Ulla hatte Karin bereits ein wenig früher als Christian kennen gelernt und so war sie automatisch zu der Lerngruppe dazu gestoßen.
Schon nach wenigen Wochen wusste Christian, dass Ulla ein Arbeitstier war. Zu jedem ihrer Treffen kam sie hervorragend vorbereitet. Selbst bei Fragen, die an diesen Abenden nicht beantwortet werden konnten, brachte sie bei der folgenden Zusammenkunft die Antworten mit, die sie recherchiert hatte. Dies war einer der Gründe, dass Christian glaubte, Ulla in keiner Weise ebenbürtig zu sein. Sie war so diszipliniert, dass es fast schon unheimlich war. Mit Ulla an seiner Seite, so spürte Christian, konnte er beim Examen nicht durchfallen.
Bei Karin hatte er dieses Gefühl nicht. Natürlich gab sie sich ebenfalls Mühe. Doch genügte ihr das grundlegende Wissen. Im Umgang mit dem Studium ließ sie jene Neugierde vermissen, die Ulla und, durch ihr Vorbild, letztendlich auch Christian an den Tag legte. Karin war schneller zufrieden zu stellen. Sie war gerne ein Teil der Lerngruppe, in der sie als ausgleichender Pol wirkte, wenn Ulla es mit ihrem Enthusiasmus doch einmal übertrieb.
Somit bewegte sich Karin mit einer gewissen Distanz durch ihr Studium. Trotzdem war Christian davon überzeugt, dass sie über genauso viel Zielstrebigkeit und Ausdauer wie

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Kommentare

25. Mär 2016

Der Autor schuf ein Werk mit Feuer -
Und wie es wirkt. Ganz ungeheuer!

LG Axel

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