Stadt in Not

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von Magnus Gosdek

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An einem frühen Morgen im November kamen von Loddin ein älterer Mann und ein junger Bursche den Weg daher. Der Ältere stützte sich auf einen Stock und es fiel ihm schwer, die Füße für den nächsten Schritt zu heben. Der Junge aber schritt mit seinen siebzehn Jahren munter aus, dass er immer wieder auf den Älteren warten musste.
„So kommt, Vater. Wenn alles, was ihr mir erzähltet, wahr ist, so drängt es mich zu diesem Ort. Der Weg aber scheint mir noch gar zu weit“, sagte er und suchte mit den Augen den Horizont ab.
„Nicht halb so weit, wie du vermuten magst“, entgegnete der Ältere. „Bald schon wirst du die Zinnen der Stadt am Horizont entdecken.“
„Ist es wahr, dass sie aus purem Gold bestehen?“ fragte der Junge neugierig.
„Wohl scheint mir das ein wenig übertrieben“, entgegnete der Alte, „doch mag man es vermuten, wenn sich die untergehende Sommersonne auf ihnen widerspiegelt. Das Stadttor aber wurde aus festem Erz gefertigt und bietet dir einen Anblick der wahren Pracht. Jeder Feind, der versucht, es zu durchbrechen, muss dieses Unterfangen aufgeben. Auf der ganzen großen Welt gibt es keine Stadt, die Vineta gleicht.“
„So lasst uns beeilen, Vater, dass ich es sehen kann“, forderte der Jüngling ihn auf.
„Es ist die Jugend, die dich drängt“, entgegnete der Ältere. „Sei gewiss, dass diese Stadt uns überdauern wird, so lange wir auf Erden auch wandeln mögen. So lass uns einen Augenblick der Ruhe gönnen.“
Er blieb stehen und atmete tief durch. Wie aus langer Gewohnheit lehnte er sich dabei auf den Stock. Als er sich nun einen Augenblick ausruhte, sah man, dass er die Mitte des Lebens kaum überschritten haben mochte. Keineswegs war er so gebrechlich, dass er den Stab als Stütze unbedingt benötigte. Jegliche Kraft jedoch schien bereits seit langem seinem Körper entwichen zu sein. Die Jahre, welche er in Diensten der kaiserlichen Truppe Ottos verbrachte, hatten ihn schneller altern lassen. In sein wettergegerbtes Gesicht gruben sich tiefe Falten ein, und der dichte Bart an seinem Kinn ergraute mit jedem Schritt, den er tat. Seitdem sie sich jedoch auf den Weg nach Vineta gemacht hatten, war wieder ein kleines Flackern in seine Augen zurückgekehrt. Zu lange schon hatte er von dieser Heimkehr geträumt.
Als sein junger Begleiter sah, dass der Ältere sich ausruhen musste, sprang er herbei und versuchte ihn zu stützen.
„Kommt“, sagte er, „je schneller wir unser Ziel erreichen, desto eher werdet ihr ein Lager zum Ausruhen finden.“
„So magst du nur auf den Barmherzigen hoffen“, erwiderte der Vater. „In der Stadt zählt das nicht viel. Der Gier dort ist so groß, dass für Gott kein Platz dort ist. Mag ich auch deinen Oheim über zwanzig Jahre nicht mehr gesehen haben, so sage ich dir, dass sein Herz mehr an dem Golde hängt, als an der reinen Seele.“
„Ihr habt mir nicht viel von ihm erzählt“, wagte der Jüngling zu sagen.
„Was du weißt, soll genügen“, entgegnete der Alte. „Wenn er noch lebt, wirst du ihn kennen lernen.“
„So erzählt mir noch einmal, wie ihr die Stadt verlassen musstet“, bat der Sohn eindringlich.
„Ich habe dir die Geschichte so oft bereits erzählt, dass ich nicht mehr zu sagen vermag, ob sie tatsächlich geschehen oder nur ein übler Traum ist, der die Sinne mir verwirrt“, entgegnete der Alte und stützte sich fester auf seinen Stock.
„Wohl wahr, dass ihr mir euer Los oft erzählt habt. Doch hier, nun so nah vor den Toren der Stadt, scheint es mir, als würde die Geschichte mit der Landschaft verschmelzen. Fast glaube ich, die See bereits riechen zu können, die euch so viel Wohlstand und Leiden bereitet hat. Und wenn ich es recht bedenke, so deucht es mir, dass euer Herz noch sehr an der Stadt hängen mag“, entgegnete der Sohn.
„Du hast gewiss Recht. Das große Meer ist nicht mehr fern und wenn wir in der Rede innehalten und lauschen, so hören wir bereits die Möwen, welche unstet über dem Strand kreisen. Wie oft habe ich sie dabei beobachtet. Als Kinder spielten dein Oheim Rungbert und ich dort stundenlang. Wir suchten den Horizont nach den Schiffen ab, die aus Jütland oder Gothland kamen. Dann stellten wir uns vor, mit ihnen in die Welt hinaus zu fahren und all die geheimnisvollen Orte zu sehen, von denen wir auf dem Marktplatz hörten.“
„Es muss aufregend sein, von diesen Ländern zu träumen“, entgegnete der Junge, doch der Vater seufzte schwer.
„Ein Traum vermag wunderbar zu sein und all die Abenteuer, von denen sie berichten, sind gar zu verführerisch. Die Schiffe brachten Waren in die Stadt, welche die Händler weiter tief ins Landesinnere verkauften. So zog der Wohlstand in Vineta ein, und auch unser Vater wurde ein hochgeehrter Kaufmann.
Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Schiffe in unseren kleinen Hafen, dass er fast barst vor all den kostbaren Gütern, die aus den fernen Gegenden herbeigeschafft wurden. Dein Großvater wurde reich, so wie alle Einwohner der Stadt, dass sie gar nicht mehr alles verkaufen konnten und die Stadt mit ihrem Glück schmückten. Doch sind wir Menschen so schwache Geschöpfe. Nichts kann uns zufrieden stellen und dort, wo sie Reichtum erlangen, verlangt es sie nach mehr.“
„Nicht alle Menschen sind so“, warf der Jüngling forsch ein.
Der Alte lächelte in sich hinein.
„Du bist so jung, mein Sohn, und voller Ideale. Doch auch dir wird die Welt es lehren!“
„Niemals!“ rief der Jüngling voller Überzeugung aus.
„So magst du ein Heiliger sein. Die Leute in Vineta sind es jedenfalls nicht. Als sie nicht mehr wussten, was sie mit all dem Reichtum anfangen sollten, begannen sie, die Tröge der Schweine aus purem Gold zu fertigen und sogar die Hufe der Pferde ließen sie so beschlagen. Wenn sie ein Loch in der Mauer entdeckten, so schlossen sie es mit Brotkrumen. Ihre Verschwendungssucht fand kein Ende. Und auch ich, du magst es glauben oder nicht, war diesem Wahn erlegen. Niemals konnte ich mir vorstellen, dass Menschen in Armut leben mussten. Der Vater gab Rungbert und mir, was immer wir begehrten, und wir lebten in Frieden und Eintracht miteinander.
Doch dann starb unser Vater plötzlich. Mir, als dem Älteren, stand es zu, seinen Handel zu übernehmen und Rungbert sollte

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