Stadt in Not - Page 7

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von Magnus Gosdek

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so war, als würde eine heimliche Vertrautheit sie umgarnen.
„Setzt euch zu mir und erzählt mir ein wenig von der Stadt“, sagte Niels deshalb.
„Ich habe eure Speisen vorzubereiten“, erwiderte Semi, aber Niels sah ihr an, dass sie nur zu gerne seinem Angebot folgen würde. Sicherlich gab es bloß wenig Gelegenheit der Gesellschaft für sie.
„So mögt ihr es hier am Tisch tun“, schlug Niels vor und Augenblicke später saß die junge Frau ihm gegenüber.
„Welch seltsame Stadt“, begann Niels. „Hier scheint niemand arm zu sein.“
„Viele Einwohner Vinetas sind Kaufleute und Handwerker“, sagte Semi, die darauf stolz zu sein schien. „Wer es hier als Mann nicht zu etwas bringt, der mag in die Welt hinaus ziehen und sich als Söldner verdingen.“
„An jedem Haus sah ich einen silbernen Türknauf, und auch hier bei euch scheint das der Brauch zu sein.“
„Ihr mögt es Mode nennen. Silber ist zuhauf vorhanden, dass es als Verzierung dient. Es hat bei uns keinen Wert, ebenso wie viele der Edelsteine, die ihr auf den Kelchen seht.“
Semi wies mit der Hand auf das Trinkgefäß.
„Vineta ist wahrlich eine reiche Stadt, in der man nicht barfuß gehen muss“, bestätigte Niels sinnend.
„Selbst die Pferde sind mit goldenen Hufeisen beschlagen“, bestätigte die Magd, während sie eifrig das Gemüse schnitt. Niels beobachtete sie dabei und dachte eine Weile nach. Dann fragte er:
„Solch ein Reichtum bringt allerdings sicher eine Menge Feinde, oder?“
Semi lachte. Niels gefiel die Art, wie sie den Kopf in den Nacken warf und ihre Augen aufleuchteten.
„Gar viele“, bestätigte sie. „Doch ist die Stadt wohl bewehrt. Niemand vermag, sie zu bezwingen. Im Hafen ankern für gewöhnlich genügend Schiffe, dass die Schweden es nicht wagen, uns von der Seeseite aus anzugreifen.“
„Die Stadt ist gesegnet. Nichts bereitet Sorgen“, schloss Niels.
„So wie ihr sagt, so ist es“, nickte Semi. „In Vineta herrschen Frieden und Glück.“
„Die vielen Fremden geben euch sicherlich Gelegenheit der Abwechslung“, vermutete Niels.
„Oh nein!“ wieder lachte Semi. „Glaubt mir, man gewöhnt sich gar zu schnell daran! Es gibt nicht viel Neues, was wir erfahren könnten. Und grade jetzt, wo viele sich auf den Wegen in die anderen Städte befinden, ist es manchmal schon zu langweilig. Erst wenn die Männer zurückkehren, haben sie von ihren Abenteuern zu erzählen. Hätte es nicht diese besondere Begebenheit gegeben, so könnte ich euch nichts berichten.“
„Welche Begebenheit?“ fragte Niels, während er wieder an dem Wein nippte.
Semi zögerte einen Augenblick, als überlege sie, ob sie nicht zu viel geplaudert hätte und es richtig war, einem Fremden das Erlebnis zu berichten. Doch es war das Einzige, was sie von der Wunderstadt erzählen konnte, und so legte sie entschlossen das Messer beiseite und sagte:
„Es mag drei Monate oder etwas mehr her sein. Die See war klar, dass man fast bis nach Gothland sehen konnte. Die Wolken des Himmels hatten sich verflüchtigt und das tiefe Blau des Lebens trat hervor. Da erhob sich gegen Mittag am Himmel eine Luftspiegelung, so klar, dass es keinen Zweifel gab. Es war unsere Stadt, die sich dort, wie aus Gottes Hand, abbildete. Doch standen sämtliche Häuser auf dem Dach, dass man meinen mochte, sie fielen jeden Augenblick hinab ins Meer. Und als unsere Turmglocke schlug, war es, als würden die Heerscharen der Engel zu einem letzten Gebet auffordern.“
„Wie schauerlich“, sagte Niels, der dieser Erzählung aufmerksam folgte.
„Ihr könnt euch vorstellen, welch ein Gerede in der Stadt entstand. Die Alten sprachen davon, dass wir die Stadt unverzüglich zu verlassen hätten. Luftspiegelungen von Schiffen und Orten führen unwiderruflich zu deren Untergang. So redeten die Leute. Dies entspringt sehr wohl noch aus dem alten Glauben. Doch heute denken die Menschen glücklicherweise anders. Kaum jemand ergriff die Flucht. Die Furcht aber blieb.“
Gerade in diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Nurmi trat herein.
„Was redest du von Furcht, Semi? Es ist ein Tag der Freude. Johannes Brack ist zurückgekehrt und mit ihm sein Sohn. Das Handelshaus wird weiter bestehen. Kommt, Herr Niels, euer Vater erwartet euch im Speiseraum! Semi, bring Herrn Johannes seinen Wein.“
Semi legte das Messer beiseite und erhob sich. Sie griff nach dem zweiten Kelch und huschte an Nurmi vorbei. Auch Niels war aufgestanden und folgte den beiden durch die Eingangshalle hinüber in den gegenüberliegenden Raum.
Johannes Brack hatte sich an das Kopfende des Tisches gesetzt. Der Vater war tatsächlich noch nicht so alt, wie er ihm auf der Straße vorgekommen war. Die Last der Jahre war aus seinem Gesicht gewichen, und nun erkannte der Sohn die Züge eines entschlossenen Händlers. In seinem Herzen mochte er es immer geblieben sein. Die Welt war für ihn ein Exil, dem er sich beugen musste. Momentan aber hatte er seine wahre Heimat wiedergefunden und war nicht bereit, sie je wieder zu verlassen.
Als Semi ihm den Kelch reichte, lächelte Johannes Brack sie an, und das Mädchen errötete. Im gleichen Maße, wie sie mit dem Sohn vertraut umging, fühlte sie gegenüber dem Vater Scheu. Für Johannes Brack schien es ein normales Verhalten zu sein oder er mochte es gar nicht bemerken. Nachdem sein Bruder in seinem Zimmer auf dem Strom der Finsternis segelte, war er der Herr im Haus.
Semi eilte aus dem Raum, und die Augen des Händlers wandten sich seinem Sohn zu.
„Setz dich. Wir haben einiges zu besprechen“, sagte Johannes Brack und wies auf den Stuhl zu seiner Rechten.
„Wir bringen euch sogleich Speisen“, bemerkte Nurmi und zog sich ebenfalls zurück.
Johannes Brack legte beide Hände auf den schweren Eichentisch und sah zu Niels hinüber. Es war dem Sohn, als sehe er ein Lächeln um die Lippen des Vaters, was er so lange nicht hatte erkennen können.
„Habt ihr von der Luftspiegelung vernommen?“ fragte Niels. Johannes Brack hob fragend eine Augenbraue und der Jüngling erzählte ihm, was er von Semi erfahren hatte.
„Das ist Aberglaube“, urteilte Johannes, als sein Sohn geendet hatte. „Hier an der See ist er noch mehr verbreitet als anderswo. Die Menschen glauben an Ungeheuer und den Zorn des Meeres. Vielleicht kommt es von den Wellen, die manches Mal gar zu heftig wüten. Aber das soll uns nicht kümmern. Wir sind Pelzhändler und haben Wichtigeres zu tun, als den bösen Omen der Alten zu lauschen.“
„So glaubt ihr nicht an

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