Stadt in Not - Page 11

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von Magnus Gosdek

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grünen Augen starrten zu uns herüber, und sie blieb bewegungslos, dass einige Leute bereits darüber sprachen, ob auch sie vielleicht nur eine Luftspiegelung sei. Plötzlich allerdings hob sie beide Arme empor und ihre korallenspitzen Finger wiesen auf uns.
Ihre Stimme glich dem Tosen eines Sturmes. Sie jaulte durch den Orkan und doch klang sie so rein, dass ich sie ebenfalls verstehen konnte.

„Vineta, Vineta, du rieke Stadt, Vineta sall unnergahn, wieldeß se het väl Böses dahn!“

Als sie dies verkündet hatte, stierte sie zu uns herüber und versank augenblicklich zurück in den Fluten, dass wir gar nicht wussten, wie uns geschah.“
Der Matrose schwieg. Auf seinen Wanderungen hatte Niels bereits viel davon gehört, dass Seeleute schaurige Geschichten zu berichten wussten. Diese Erzählung jedoch bereitete in ihm Unbehagen. Wenn die ganze Stadt die Erscheinung gesehen hatten, mussten die Leute auch die Geschichte des Matrosen bestätigen können. Doch was sollte in Vineta Böses geschehen sein, dass sie dieses Urteil der Wasserfrau verdiente?
„Doch Hochmut ist es, der die Stadt dem Untergang weiht“, entgegnete der Matrose.
„Der Hochmut?“ fragte Niels verwundert. „Noch habe ich davon nichts bemerkt. Wohl besteht die Stadt aus Kaufleuten, freilich konnte ich diesen Stolz nicht erkennen.“
„Nicht der Mensch ist es, der diese Sünde erfährt. Es ist gegenüber Gott. Kaum, dass er höher geschätzt wird, als ein niederer Lakai. Das Gold und edle Steine beherrschen die Herzen der Bürger und sie besitzen so viel davon, dass sie Gott damit lästern.“
„Auch davon habe ich nichts bemerkt“, sagte Niels.
„Das Handeln der Seele bleibt oft verborgen. Ich sage euch, in dieser Stadt ist für Gott kein Platz“, sprach der Matrose entschieden, dass Niels fröstelte.
„Ich muss zurück“, sagte er zu dem Seemann.
„So lebt denn wohl und passt auf euch auf!“ entgegnete der Matrose.
„So auch ihr“, entgegnete der Jüngling.
„Morgen werde ich diesem verfluchten Ort entkommen“, sagte der Mann und starrte weiterhin auf die See hinaus.
Niels aber lief durch die Reihen der Unterstände zurück in die Stadt, die sich aus der Ankündigung der Wasserfrau nichts zu machen schien.

5

Gerade als Niels an dem Haus der Bracks vorbeikam, sah er, wie Semi aus der Richtung des Marktplatzes zurückkehrte. Sie schien in großer Eile gelaufen zu sein. Ihre Wangen hatten sich gerötet und der Atem ging ihr schwer.
„Semi!“ rief Niels ihr entgegen. Die junge Frau blieb stehen und sah sich um, wer gerufen haben mochte. Sie erblickte den jungen Herrn Brack und kam ihm atemlos entgegen.
„Gott sei gelobt, dass ich euch treffe“, seufzte die Magd, als Niels sie erreichte. „Herr Rungbert ist gestorben. Ich war gerade bei der Innung, um es Herrn Johannes zu melden. Doch saß er mit den anderen Herren im Rat zusammen, dass ich nicht mit ihm zu sprechen vermochte.“
„So schnell starb der Oheim?“ fragte Niels betroffen und fasste Semi an den Oberarm, als suche er eine Stütze.
„Nurmi konnte glücklicherweise rechtzeitig einen Priester holen und ihm die Sakramente geben. Er wird noch oben sein“, redete Semi weiter.
„Ich möchte meinen Oheim sehen“, entgegnete Niels entschieden.
„Er liegt auf seinem Totenlager“, sagte Semi.
„Es ist unser aller Los“, bemerkte Niels und sprang ins Haus. Die Magd folgte ihm langsamer. Wieder erdrückte den Jüngling die Dunkelheit der Eingangshalle. Wie gelähmt blieb er stehen, bis Semi ihn erreichte und wortlos an ihm vorbei die Treppe hinaufstieg, dass Niels ihr schließlich folgte.
Als sie das Zimmer des Oheims betraten, glaubte Niels, noch den Geruch des Todes zu riechen. Unwillkürlich hielt er den Atem an. Semi trat beiseite, dass er weiter in den Raum gelangen konnte. Erneut benötigten seine Augen eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er glaubte, ein Gemurmel zu vernehmen, und als er näher an die Lagerstatt trat, bemerkte er dort einen Schatten, der sich in seiner absoluten Schwärze von dem Raum abzeichnete. Augenblicklich verstummte das Gemurmel.
„Wer seid ihr?“ fragte der tiefe Bariton des Schattens.
„Niels, Sohn von Johannes und Neffe von Rungbert“, hörte der Jüngling sich selber sagen.
„So tretet herbei und nehmt Abschied“, entgegnete der Bariton, welcher zweifelsohne dem Priester gehörte.
Obwohl Niels noch einen Schritt näher kam, konnte er den Onkel nicht erkennen.
„Öffnet die Fensterläden“, befahl er deshalb Semi.
„Die Dunkelheit ist das Licht der Toten“, mahnte der Priester.
„Es wird meinen Onkel nicht schaden, wenn ich für die Lebenden die Helligkeit vorziehe“, entgegnete Niels und wandte sich zu Semi um, die damit begonnen hatte, die Verriegelungen am Fenster zu lösen.
Das Licht strömte herein. Es trug ein graues Trauergewand, und als der Schein die Lagerstatt erreichte, legte er sich erschöpft als Totentuch auf Rungberts Gesicht.
Beim ersten Besuch hatte nur ein schmaler Schein den Körper gestreift. Nun aber breitete sich das Licht vollends aus, dass Niels seinen Oheim sorgsam betrachten konnte. Er sah eine entfernte Ähnlichkeit mit seinem Vater. Doch waren die Wangen ausgezehrt. Mochte es auch von der Krankheit herrühren, hatte sie sich tief eingegraben, als hätte er seit Jahren bereits daran gelitten. Es verwandelte den Kopf in einen Schädel der Verzweiflung. Vielleicht hatten den Onkel Schmerzen gepeinigt, die kaum auszuhalten waren. Es war gut vorstellbar.
Doch nach wem hatte er in seiner Not gerufen? War es Nurmi, den er um Hilfe anflehte, oder gar Semi? Oder waren es die unendlichen Stapel Pelze und das Gold, welches er in den Jahren seit Johannes Flucht angehäuft hatte? Hatte dieser Glanz den Sensenmann letztendlich gnädig gestimmt; ihn, der sich von nichts beeindrucken ließ?
Niels glaubte an den allumfänglichen Frieden. Der letzte Augenblick, an dem man sich an die Menschen erinnerte, denen man gut war. Er hoffte, dass man in diesem Augenblick, bevor der Erlöser einem die Hand reichte, die Momente noch einmal sah, die man glücklich mit ihnen verbracht hatte. Trost und Dankbarkeit sollten die Gefühle sein, die den Weg in den Himmel leichter beschreiten ließen.
Hatte der Onkel die edlen Steine noch einmal in seiner Hand gespürt, als er die kalte Hand auf seiner Schulter spürte? Selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte, zweifelte Niels, dass sie ihm die gleichen Gefühle beschert haben sollten. Vineta hieß man eine Wunderstadt, aber ganz gewiss waren es keine Wundersteine. Von solchen hatte der Jüngling niemals zuvor ernsthaft gehört.
Die entfernte Ähnlichkeit mit seinem Vater brachte Niels auf den Gedanken, dass auch

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