Es war am 4. März 2006 in Brisbane, Australien.
Das Leben ist eine Reise,
du weißt nicht, wohin sie dich führt.
Vielleicht - über wildfremde Länder -
vom Nürnberger Zentrum nach Fürth.
Jeder hat wohl davon gehört, oder hat es selbst erlebt, dass Lebenslinien sich kreuzen können, und im Kreuzungspunkt treffen sich zwei oder mehrere Individuen, um danach wieder auseinander zu driften und sich nie mehr treffen.
Um ein solches Zusammentreffen zweier Lebenslinien dreht sich diese Geschichte.
Allein, dass wir (meine Frau und ich) überhaupt einmal nach Australien kommen sollten, war für uns die längste Zeit des Lebens ganz unwahrscheinlich.
Dass wir an diesem Tag in einer Sporthalle in Brisbane in einigen Szenen eines Films als Statisten mitwirken sollten, war genauso unwahrscheinlich. Dass wir dann in dieser Halle Cathy Freeman, die wohl bekannteste Frau Australiens, kennenlernen sollten, ebenso. Sie spielte in diesem Film eine Rolle, hauptsächlich wohl wegen ihres Bekanntheitsgrads. Einige Bemerkungen zu ihr sind mir in diesem Zusammenhang wichtig:
Bekannt, und beliebt, ist sie, weil sie im Jahr 2000 das Olympische Feuer in Sydney anzündete und dann auch die Goldmedaille über 400 Meter gewann. Sie ist von aboriginischer Abstammung. Sie wurde eine Botschafterin ihres Volkes, der Ureinwohner Australiens, und machte die Weltöffentlichkeit auf deren beschwerliche Situation aufmerksam. Und die (neuen) Australier darauf, dass auch Aborigines zu etwas taugen.
Aufgrund ihrer Bekanntheit hatte man ihr zwei Bodyguards zur Seite gestellt.
Und hier beginnt die Geschichte, die ich erzählen möchte.
Der eine der beiden Bodyguards, ein schwarzer Hüne, war auch ein Aborigine. Als ich mit meinen 173 cm und 68 kg neben ihm stand, war er eher ein Riese, sowohl was die Höhe angeht, als auch die Breite. Weitere Vertreter dieser fast einmal fast ausradierten australischen Urbevölkerung waren unter den zahlreichen Statisten. Hier wurde ich ein "Freund" dieser Volksgruppe, die vor ca. 60.000 Jahren in das menschenleere "Australien" einwanderten, über Tausende von Jahren von Afrika über Asien kommend. Damals gab es eine Landverbindung zum nördlichen Australien hin. Die "neuen" Australier aus Europa kamen 59.700 Jahre später, nahmen dem Urvolk ihr Land, dezimierten es und steckten den Rest in Reservate, in denen sie assimiliert werden sollten. Von 1788 bis 1930 schrumpfte die Urbevölkerung von ca. 1.250.000 auf ca. 50.000, u.a. auch durch die Weitergabe von Alkohohl und Krankheiten, die es hier vorher nicht gab. (https://en.wikipedia.org/wiki/History_of_Indigenous_Australians)
Einem der ältesten indigenen Völker der Welt wurde die Art zu leben und damit die Kultur geraubt.
Es hat immer noch so gut wie keinen Status in Australien, was heißen soll, dass es in den letzten 20 Jahren etwas besser geworden ist. 2008 hat sich die Regierung offiziell entschuldigt für einen Teil der Missetaten. Von einer "Wiedergutmachung" war aber nicht die Rede. Eine solche wäre auch gar nicht mehr möglich.
Mit diesem netten, schwarzen Bodyguard-Hünen, diesem mit einem gestreiften Hemd und einer dunklen Hose gekleideten Riesen, kamen wir ins Gespräch. So im Nachhinein frage ich mich, ob er dabei den "Body", den er zu schützen hatte, wirklich im Auge hatte. Aber da war ja noch sein Kollege.
Gullan, meine Frau, hatte danach das unbestimmte Gefühl, dass wir dieses Gesicht mit dem zugehörigen massigen Körper schon irgendwo mal gesehen haben... Ich stellte mich fragend.
"Doch, jetzt weiß ich! 2004, in Schweden, im Fernsehen!" sagte sie. Nun erinnerte ich mich auch wieder an die ergreifende Dokumentation über einen jungen, schwarzen Rap-Musiker aus Hudiksvall in Schweden, der in einem Reservat für Aborigines in Cherbourg im australischen Teilstaat Queensland geboren wurde, dessen Mutter ihn aber nicht haben wollte/konnte. Ein schwedisches Paar, das in Queenslands Hauptstadt Brisbane lebte, adoptierte den nur einige Tage alten Mike. Als er sieben Jahre alt war, ließ sich seine Adoptivmutter scheiden. Sie kehrte nach Schweden zurück und nahm Mike mit. Als Mike zwölf Jahre alt war, stirbt sie an Krebs. Mike war wieder elternlos, wie schon bei seiner Geburt.
Seine Jugend war nicht ohne Probleme. Eine Schwester seiner Adoptivmutter nimmt ihn vorübergehend auf, danach kommt er in ein Jugendheim. Hier findet er eine neue "Familie": Eine jugendliche Rapper-Gang.
Als er 21 Jahre alt war, wohnt er zusammen mit seinem besten Freund, ein Immigrant aus Afrika, in Hudiksvall, im mittleren Schweden und träumt davon, ein bekannter Rap-Musiker zu werden.
Eines Tages erhält er einen Telefonanruf von seiner biologischen Mutter in Australien. Sie möchte, dass Mike zurück zu ihr in das abgelegene Aborigines-Reservat im australischen Hinterland kommt.
In den folgenden, einschneidenden drei Jahren begleitet ein Filmteam mit dem Regisseur Håkan Berthas Mikes bewegte Leben in einer schwedischen Stadt und dem Aborigines-Reservat in Queensland, wo er geboren wurde aber nur einige Tage leben durfte. Hier traf er seine Familie, alles war fremd, er dachte, benahm sich wie ein Schwede, aber fühlte, dass er ein Mitglied dieser Menschengruppe ist. Etwas mutwillig am Anfang durchlief er einen Initiationsritus zur "Mannwerdung" in seinen Stamm. Er traf auch seinen Adoptivvater, der in Brisbane mit seiner neuen Familie lebte.
In diesen Jahren verwandelte sich "Big Mike" von einem verirrten Waisen zu einem erwachsenen Mann. 2003 kommt er wieder zurück nach Schweden. Aber er spürt, dass er nicht hierher gehört. Weihnachten desselben Jahres kehrt wieder zurück nach Australien. "Das ist meine Heimat, dort ist meine Familie, da gehör ich hin."
Diesen Dokumentarfilm sahen wir also 2004 in Schweden. Zu dieser Zeit hatten wir noch keine Pläne für einen Australienbesuch, obwohl unser Sohn schon seit Jahren dort lebte. Die Entfernung schreckte uns. Mein Herzinfarkt im August 2002 mit seinen Nachwehen wirkte zusätzlich dämpfend. Dass wir Anfang 2006 dennoch diese Reise auf uns nahmen lag daran, dass wir unser dann 6 Monate altes erstes Enkelkind willkommen heißen wollten.
Wir gingen noch einmal zu Mike, und Gullan fragte ihn: "We believe, we have seen you on swedish TV two years ago. Was it you who was "Big Mike" in this documentary?" Und er antwortete, überrascht und erfreut lächelnd, auf Schwedisch: "Ja, jag är Big Mike. Ni har sett filmen? Va kul, vilket osannolikt sammanträffande." Dass dies ein unwahrscheinliches Zusammentreffen war, war auch unsere Meinung. Dann erzählte er uns ungefähr das, was ich oben schrieb. Auf eine Frage von uns antwortete er: "Ich glaube nicht, dass ich nach Schweden zurückkommen werde. Australien ist mein Land, das Land meiner Vorfahren seit mehr als 60.000 Jahren. Hier sind meine inneren Wurzeln, die Kultur, die man nur zusammen von seinesgleichen erhalten und mit seinesgleichen leben kann. Bei meiner Mutter und den anderen Verwandten im Reservat werde ich wohl nicht mein Leben verbringen. Aber ich kann sie jedereit besuchen. Der Job als Bodyguard gefällt mir. Mal sehen, wie sich das hier weiterentwickelt."
Unsere letzten Worte an ihn waren: "Wir wünschen dir eine gute Zukunft, wo diese auch sein mag."
Am 4. März 2006 - nach einer langen Reise durch unser Leben, um dann von Schweden nach Australien zu kommen - standen wir in einer Turnhalle in Brisbane und sprachen mit einem sympathischen Vertreter der australischen Urbevölkerung, den man "Big Mike" nennt, und der seinerseits eine kurvenreiche Lebensreise via Schweden hinter sich hatte. Hier trafen sich zwei Lebenslinien, die dann wieder auseinanderdrifteten.
Wobei die eine bereits zwei Jahre vorher ein diesbezügliches, doch anonymes Signal via eines Dokumentarfilms im Fernsehen vorausgeschickt hatte.
Nachtrag
Bei einem Telefongespräch mit dem Regisseur des Dokumentarfilms "Big Mike", Håkan Berthas, erfuhr ich, dass Mikes Adoptivmutter noch einen zweiten aboriginischen Jungen (mit einer anderen biologischen Mutter) adoptiert hatte, den sie auch mit nach Eskilstuna in Schweden nahm. Als sie nach fünf Jahren starb, waren die beiden Jugendlichen ohne einen Angehörigen. Die Schwester von Mikes Adoptivmutter nahm die beiden fürs erste auf. Sie hatte bereits drei eigene Söhne im Jugendalter. Alle fünf wuchsen sich groß und stark. (Håkan: "Ein jeder von ihnen aß zum Mittagessen ein ganzes gegrilltes Hähnchen.")
Mike kam schließlich nach Hudiksvall. Håkan erfuhr von diesem ungewöhnlichen Schicksal und dokumentierte es in seinem Film.
Dieser Adoptivbruder von Mike kam im Film aufgrund einer unklaren Rechtslage nicht vor.
Ich denke, dass diese zwei wohl die einzigen aboriginischen Adoptivkinder sind, die in Schweden aufgewachsen sind.
***
Hier lebten sie, die Ureinwohner,
seit über 60 000 Jahren.
Dann kamen sie, die Neubewohner,
erst zögernd, dann in Scharen.
Sie nahmen ihnen ihren Raum,
weil sie Schätze darin fanden.
Die Schwarzen hielten sie im Zaum...
Es kam der Welt ein Volk abhanden.
(Aus dem Gedicht "Australien", siehe
literatpro.de/gedicht/120216/australien)
© Willi Grigor, 2017
Diese Episode gehört zum Bericht der ersten Australienreise, 2006.
Siehe auch Reisebericht:
literatpro.de/prosa/270616/au-2006-australien-reise-ins-unbekannte-teil-1