Abends gingen wir zum Fluss hinunter. Die Spaziergänger waren verschwunden und wir hatten ihn für uns alleine. Der magentafarbige Flokati des Sonnenunterganges war bereits in den Fluten versunken. Es machte uns nichts aus. Benny besaß eine Blendlaterne, die er auf einem Flohmarkt gekauft haben musste. Als wir ankamen, stand sie bereits auf dem Bootsanleger und verbreitete ihr fahles Licht bis zum Rand des Anlegers.
Sie besprenkelte den gebeugten Rücken Bennys, der auf dem Steg saß und die Beine über dem Wasser baumeln ließ, mit milchigen Flecken. Neben ihm stand eine Flasche Bier, die er zur Hälfte leergetrunken hatte. Das machte aber nichts. Max und ich hatten unsere eigenen Flaschen mitgebracht.
Jeden Abend war Benny dort unten am Fluss zu finden. Er meinte, das Geräusch der Wellen würde ihn beruhigen.
„Was könnte ihn schon so aufregen?“ fragte Max.
„Frag ihn doch! Woher soll ich das wissen?“ entgegnete ich.
„Vielleicht mache ich das einmal“, sagte Max.
Wahrscheinlich aber war die beruhigende Wirkung des Wassers auch gar nicht der Grund, dass Benny dorthin kam. Er wusste einfach nicht, wohin er sonst sollte und sooft wir zu ihm gingen, wussten wir es wohl auch nicht.
„Wer ist der Typ überhaupt?“ fragte Max. „Ich meine, wer kommt schon hierher, um sich nachts an den Fluss zu setzen?“
Auch darauf konnte ich nichts zu sagen. Im Grunde kannten wir Benny überhaupt nicht. Er kam nicht aus unserem Stadtteil, wenigstens hatte ich ihn dort noch niemals gesehen. Max aber war nun einmal ein ziemlich misstrauischer Typ. Doch musste ich zugeben, dass es auch für mich ziemlich seltsam war. Irgendeinen Grund gab es sicherlich. Aber das war Bennys Sache.
Er sprach kaum, doch war er nicht menschenscheu. Es störte ihn nicht, dass wir uns zu ihm setzten, auch wenn er es nicht einmal wirklich zu bemerken schien. Ohne Worte nahm er es einfach hin. Ich war mir noch nicht einmal sicher, dass er unsere Namen kannte. Wir sprachen nicht darüber, und so war Benny wahrscheinlich auch nicht sein tatsächlicher Name. Wir nannten ihn nur so, um irgendeine Vorstellung zu haben. Jeder musste doch einen besitzen, und es schaffte für uns die Illusion von Vertrautheit.
Ein Mensch wie Benny war uns noch nicht begegnet. Seine Energielosigkeit irritierte uns. Jeder tat irgendetwas. Selbst Max und ich versuchten es gelegentlich. Einmal hatten wir mit Sport begonnen. Aber das machte uns keinen Spaß. Oder wir hatten nicht genug Ausdauer. Sportler zu sein bedeutete, sich auf ein Ziel festzulegen und dies widerstrebte uns zutiefst. Soweit waren wir noch nicht. Dafür gab es zu viel Neues. Manche unserer Freunde gingen dafür in die Stadt, aber wir hatten nicht genug Geld. Als Auszubildende mussten wir mit dem wenigen Lohn auskommen. Der Bootssteg war eine billige Alternative.
Als Judith kam, brachte sie Wodka mit. Ihr Vater besaß einen Laden oder wenigstens so etwas Ähnliches, aus dem sie sich versorgen konnte. Wir fragten nicht nach, ob ihr Vater es erlaubte. Vermutlich tat er es nicht, aber Judith hätte uns das ohnehin nicht gesagt. Jedenfalls hatte sie etwas zu trinken dabei.
Später saßen wir vier auf dem Bootssteg, sahen hinaus auf die finstere Strömung des Flusses und ließen die Flasche kreisen. Auch Benny nahm sie entgegen. Dies war die einzige Bewegung, die wir wirklich an ihm bemerkten. Vielleicht war es der Eintrittspreis, dass wir den Abend hier mit ihm zusammen verbringen konnten.
Der hochprozentige Schnaps schien bei Judith die Eindrücke der Nacht intensivieren und es dauerte nicht lange, bis sie gut drauf war. Sie redete von allem Möglichen, auf das sie keine Antwort erwartete. Und manchmal stieß sie dabei ein „Uuuh!“ tief aus ihrem Bauch hervor, so dass wir ahnten, wie wohl sie sich fühlen musste.
Judith war schon immer so. Sie wollte es „echt“, wie sie sich ausdrückte. Bereits in der Schule war dies ihre bevorzugte Umschreibung gewesen und hinderte sie letztendlich wohl daran, Freundinnen zu finden. Die anderen konnten mit ihrem Echtsein nichts anfangen und Judith wusste selber nicht genau, was sie damit meinte.
„Ich merke es einfach unmittelbar“, erklärte sie, als ich sie einmal danach fragte.
„Die hat sie nicht alle“, urteilte Max, als ich es ihm erzählte.
„Wer hat das schon?“ entgegnete ich.
„Ich finde mich schon ganz vernünftig“, sagte Max. Darauf sagte ich dann nichts mehr.
Wenn Echtsein sein lohnendes Ziel für Judith darstellen mochte, dann schien sie ihm auf dem Bootssteg ein Stück näher zu kommen. Wir wussten von Benny nichts, doch zumindest in seiner Art war er kompromisslos ursprünglich und dies war für Judith bei Weitem mehr, als sie woanders zu finden glaubte.
Als Judith ein gewisses Limit erreicht hatte, wollte sie tanzen. In dieser Beziehung waren Max und ich uns jedoch einig. Es waren unnütze Bewegungen. Benny reagierte überhaupt nicht darauf. Doch Judith erwartete auch nicht, dass wir mitmachten. Sie sprang auf, breitete ihre Arme aus und drehte sich auf dem Steg zu einem lautlosen Rhythmus um die eigene Achse. Es mochte ein Augenblick ihrer unmittelbaren Empfindung sein.
Sollte doch jeder tun, was er wollte; Benny in die Wellen starren und Judith tanzen, auf Max und mich machte es keinen Eindruck. Wir saßen auf dem Bootssteg.
Judith hielt aus, bis sie außer Atem geriet und das dauerte schon eine ganze Weile. Vielleicht sahen Max und ich schon gelegentlich zu ihr hinüber; Benny aber ließ sich davon nicht ablenken. Er besaß seine eigene Gedankenflora und darin kam von uns dreien ohnehin niemand vor.
Wir sprachen ihn auch nicht an. Wie wir wussten, hielt Benny von Gesprächen nichts. Als wir ihn kennenlernten, versuchten wir die erste Zeit uns mit ihm zu unterhalten, doch merkten wir schnell, dass in dieser Beziehung nichts mit ihm anzufangen war. Er gab uns keine Antworten. Stattdessen griff er lieber nach seiner Flasche und verlor sich ins Unbekannte. Benny hatte keine Vorstellung von dem, was uns beschäftigte und es interessierte ihn auch nicht.
Nach einer Weile wurde uns an diesem Abend langweilig. Immer auf den Fluss hinauszublicken wir nicht aufregend. Nur der Alkohol besaß seinen gewissen Reiz, auch wenn es nicht unbedingt funktionierte.
„Lasst uns etwas machen“, schlug Max vor.
„Was?“ fragte Judith und erwartete eine großartige Idee.
„Irgendwohin gehen“, sagte Max.
„Ist da etwas los?“ fragte ich.
„Ist es echt?“ fragte Judith.
„Weiß nicht“, sagte Max.
Darauf reagierte Benny. Er begann leise, Bob-Dylan-Songs zu singen.
„Warum, zum Teufel, Bob Dylan?“ fragte Max. „Der Typ ist doch schon lange tot.“
„Der ist nicht tot“, sagte ich.
„Für mich schon“, entgegnete Max.
„Spielt irgendwo eine Band?“ fragte Judith.
„Aber nicht Dylan!“ entgegnete Max.
„Ist mir egal“, sagte Judith.
„Keine Ahnung“, antwortete ich auf ihre Frage.
„Muss ich nicht haben“, sagte Max und Judith griff daraufhin zur Flasche.
Benny störte das alles nicht. Während er „It´s all over now, Baby blue“ sang, kümmerte ihn überhaupt nichts.
„Ich glaube, mir wird schlecht“, sagte Judith. Sie begann zu würgen. Aber das hatte nichts mit Bennys Stimme zu tun. Judith vertrug den Wodka nicht gut. Sie sprang auf und lief hinüber zu dem Gesträuch hinter uns auf den Wiesen. Dann übergab sie sich, dass wir das Geräusch bis hinunter auf den Steg hören konnten.
„Oh Mann!“ sagte Max. „Wenn sie es nicht verträgt, soll sie es doch sein lassen.“
Doch was sollte Judith stattdessen tun? Alles schien möglich und gleichzeitig nichts. Nach einer Weile kehrte sie zurück, kauerte sich ein wenig benommen wieder auf den Steg, nahm die Flasche und trank. Judith war hart im Nehmen.
„Seht doch, wie das Mondlicht silbern auf den Wellen schimmert“, sagte Benny zwischen zwei Songs und deutete hinaus auf den Fluss. Wir starrten hinaus und versuchten zu ergründen, was Benny uns damit sagen wollte. Judith gluckste. Vielleicht wurde ihr wieder schlecht.
„Toll“, stimmte ich zu, nur um etwas zu sagen. Für mich war es bloß ein Lichtstreifen, der sich auf dem Wasser reflektierte. In Bennys Augen aber schienen sich die Mysterien des Universums zu öffnen.
„Nennt mit Ollinger“, sagte Benny und dies war der Moment, in dem er „Knocking on heavens door“ anstimmte. Vielleicht war Ollinger sein tatsächlicher Name, aber wir bezweifelten es. Er hörte sich gekünstelt an. Doch das war dieser Augenblick ebenfalls. Benny schien sich in eine Welt zu verlieren, in die wir ihm nicht folgen konnten. Wir wollten es auch nicht. Es fühlte sich wie Sport an. Benny legte sich in seiner Unbestimmtheit fest. Monoton schwangen die Klänge des Dylan-Songs über die Fluten. Wir wussten nicht, was es bedeutete, aber wir wussten, dass Benny nun genug getrunken hatte.
Judith bekam von alledem nichts mit. Sie war eingeschlafen. Der letzte Wodka hatte ihr endgültig den Rest gegeben. Wir konnten sie nicht wecken, dass Max sie auf die Schultern hob und wir den Bootssteg verließen.
Benny sah sich nicht um. Vielleicht war er jetzt wirklich Ollinger und trieb auf den Wellen dahin. Für uns aber war es Zeit, wenn wir morgen früh rechtzeitig aufstehen wollten. Benny jedoch stierte hinaus auf den silbernen Mondstreif auf den Wellen und sang weiter seine Lieder in die Nacht hinein.
In die Nacht hinein
von Magnus Gosdek
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- Autorin/Autor: Magnus Gosdek
- Prosa von Magnus Gosdek
- Prosakategorie und Thema: Kurzgeschichten & Kurzprosa, Klassisch
Kommentare
Was (scheinbar) wenig da passiert -
Hier grade das ja fasziniert ...
LG Axel
Das liegt einfach daran, dass meine Figuren nicht wissen, was sie machen sollen. Vielen Dank, Axel. LG Magnus
...wie im richtigen Leben...
LG Alf
...genauso ist es, Alf. Vielen Dank LG Magnus