Gefährlicher Sommer (Teil 23)

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

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Die Schwester Anna stieg auf den Turm, und die arme
zerknirschte Frau rief ihr von Zeit zu Zeit zu: „Anna,
liebe Schwester Anna, siehst du noch nichts kommen?“
Und die Schwester Anna antwortete ihr: „Ich sehe nichts
als im Staub die Sonne glühn und nichts, als des Grases
Grün!“ Unterdessen schrie der, der einen großen
Hirschfänger in der Hand hielt, mit der ganzen Kraft seiner
Stimme: „Steigt schleunig herunter oder ich steige hinauf.“
Charles Perrault, Blaubart (La Barbe bleue)
aus „Französische Märchen“, übersetzt v. Felix Karlinger,
Ernst Tegethoff u.a.

Blaubart (Teil 23)

Jemand rief: „Aufwachen! Frühstück!“ – Eine Männerstimme. Sie klang in meinen Ohren, als käme sie von ganz weit her und längst nicht so lieblich wie das Zauberwort „Bescherung!“, das Mutti in den Mund zu nehmen pflegt, bevor sie am Heiligabend der nervigen Weihnachtsglocke das Wort erteilt hatte, als erwarte sie wer weiß wie viele Kinder, die aufgrund des Gebimmels aus allen Richtungen herbeigeströmt kämen. Lediglich Vater und ich sehen uns veran­lasst, ihrem jahrein, jahraus wiederkehrenden Ruf zu folgen, nachdem wir, während sie den Tannenbaum geschmückt und die Geschenke auf den Gaben­tisch niedergelegt hatte, in die Küche verbannt worden waren, um uns dort unserer jeweiligen Lektüre zu widmen.
Trotz des rauen Klangs dieses ungewohnten männlichen Weckers schlug ich brav die Augen auf. Das Erste, was sich einstellte, nachdem sich meine Pupillen an das Licht gewöhnt hatten, waren fürchterliche Kopfschmerzen, ein ekliger Geschmack in der Mundhöhle, entsetzlicher Durst und ein hochgradiger Zustand von Amnesie. Das wildfremde Bett, das unbekannte Mobiliar und all die ungewohnten Gegenstände um mich herum waren dazu angetan, diesen Zustand noch zu verstärken. Lediglich die Tatsache, dass ich offenbar allein und völlig unversehrt in diesem riesigen Bett lag, beruhigte mich einigermaßen. Auf dem Nachtschrank neben mir lag ein Gegenstand, der die untrüglichen Merkmale eines Buches aufwies: ein recht umfangreicher Quader mit flexiblen Kanten und alles andere als innen hohl. Getreu dem Motto: „Sage mir, was du liest, dann weiß ich, in wessen Bettchen ich gelandet bin“, griff ich beherzt nach dem fremden Lesestoff. „Handbuch der Landwirtschaft“ buchstabierten meine angegriffenen, über alle Maßen erstaunten Gehirnzellen. Kein Wunder, daß ich mich in der nächsten Sekunde wie eine steile Stuhllehne im Bett sitzend wiederfand, als hätte eine unerklärliche Macht mir dazu verholfen. Mein Kopf beschwerte sich postwendend mit einem irrsinnigen Pochen in den Schläfen, und eine ausgeprägte Schmerzwoge wälzte sich blitzartig durch mein noch leicht alkoholisiertes Gehirn. Wie um alles in der Welt war ich im Schlafgemach des Gutsverwalters gelandet?! Denn niemand sonst in meinem Bekanntenkreis würde auf die Idee verfallen, derart themenbezogene Bücher zu lesen und schon gar nicht über Landwirtschaft. – Konny? – Unsinn!
„Ritter Blaubart im Schafspelz“!, trieb es mein ins Tosen geratener Gedankenstrom, dessen fantasiebegabte Auswüchse sich umgehend zu Wort gemeldet hatten, wieder einmal gehörig auf die Spitze. Befand ich mich etwa bereits im Mordzimmer?
Typisch für dich, Katja Kleve, dass du Blaubarts Verbot, dieses eine, dieses spezielle Zimmer zu betreten, missachtet hast! Wie hätte es auch anders sein können!, stöhnte ich entsetzt auf. Offenbar war ich noch nicht mal dazu auserwählt, sein letztes Versuchskaninchen zu sein; denn zu allem Unglück sah ich mich nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Bruder vorzuweisen, der zu meiner Rettung hätte herbeieilen können. Also würde er, Blaubart, auch mich töten!
Aber noch lebst du und bist imstande ..., schaltete sich unverdrossen meine militante, störrische Seite ein.
„Also gut, ich werde kämpfen!“, schnitt ich ihr laut und entschlossen das Wort ab und dankte meinem dummen Optimismus für den sachdienlichen Hinweis. Das wäre ja noch schöner: Ritter Blaubart, der sich als Gott im Garten Eden aufspielte und die Schöpfungsgeschichte nachzustellen versuchte, die er offenbar gründlich missverstanden hatte. – Wie sonst und nicht anders sollte man dieses lächerliche Zimmerverbot interpretieren?, dachte ich erbost und taxierte mit wütenden Blicken die eher spartanische Einrichtung dieses Schlafgemachs. Plötzlich steckte Blaubart seinen Kopf durch die Tür, und in der nächsten Sekunde ließ ich meinen malträtierten Kopf erleichtert auf das mit einem weißgrün karierten Bezug versehene Kopfkissen sinken. Ich hatte es allem Anschein nach nur mit „Macheath“, meinem Hannes, zu tun! Mit ihm war ich nach Lübeck aufgebrochen. Gestern!, fiel es mir mit einem Mal wie Schuppen von den Augen. Und in der Wohnung des Gutsverwalters hatten wir den Brief an Kommissar Fuchs geklebt und ein bisschen herumgealbert, aber nur ein bisschen. Und Hannes vermisste „Blaubarts“ Whiskey und tischte statt dessen diesen puddingverdächtigen Eierlikör auf, den wir aus Brausegläsern gezecht hatten, und ich bekam einen Schwips, genauer gesagt, hatte Hannes sich erdreistet zu behaupten, ich sei stockbesoffen, was allerdings nicht allzuweit hergeholt zu sein schien; denn mir war plötzlich speiübel geworden (das zweite Mal in diesen Ferien) und ...
„Gut geschlafen?“, erkundigte sich Blaubarts Sohn und präsentierte sich von seiner besten Seite; er zeigte das charmanteste Lächeln, dessen er fähig war. Charmanter ging es nämlich nicht mehr. Das hätte ziemlich albern ausgesehen, liebe Christine. Mit einem Frühstückstablett, das er auf der rechten Innenhand balancierte, steuerte er geradewegs auf Blaubarts Schlafstatt zu.
„Warte Hannes“, rief ich schnell, nachdem ich festgestellt hatte, dass ich die vorangegangene Nacht ganz offensichtlich in voller Montur, nämlich in Bluse (die reichlich verknittert war) und Nietenhosen (völlig verschwitzt) die Nacht verbracht hatte. In dieser Hitze!
„Ich möchte mich vor dem Frühstück noch duschen und mich frischmachen. Bitte lass uns dann in der Küche frühstücken, sofern dort genügend Platz ist.“
Ich verließ panikartig Blaubarts Lotterlager und stürzte an Hannes vorbei ins Badezimmer. Hannes warf mir einen derart enttäuschten und grimmigen Blick zu, als würde er sich jeden Moment dazu entschließen, das Tablett aus dem Fenster zu werfen. Was um alles in der Welt hatte er sich erhofft? Dass wir beide gemeinsam in Blaubarts Bett frühstücken? – Einfach lachhaft, Hannes hat nicht die geringste Menschenkenntnis, Christine.
Als ich sauber geschrubbt und mit frisch gewaschenen, noch feuchten Haaren die Küche betrat, hatte Hannes sich offenbar wieder eingekriegt. Er war tüchtig am Mampfen. Ein einsames kleines Brötchen lag noch im Bastkörbchen, und ich hatte wahnsinnigen Hunger.
„Frischen Kaffee?", nuschelte Hannes und goss kauend meine Tasse voll. – „Milch? Zucker, Katja?“
„Bloß nicht“, sagte ich.
„Hast du schon

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