Gefährlicher Sommer (Teil 23) - Page 4

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von Annelie Kelch

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meinen Fuß ver­arztet. In zwei, drei Tagen darf der Verband abgenommen werden!“ Auf meiner Stirn perlte der Schweiß. Ich sah, wie Hannes die Augenbrauen emporzog. Das hätte ihm so gepasst! Vier, fünf Tage mit dieser elenden Bandage! Auf einem Gutshof! Zwischen Pferden, Kühen und Gänsen! Ich! – Da lachen ja wohl alle Hühner!
„Nein, wirklich? Der Dietmar?! Was für eine Überraschung!“, rief die Gnädigste begeistert aus und wurde rot wie ein junges Ding. Hoffentlich verfällt sie nicht auf die Idee ihn anzurufen, dachte ich nervös. Nachher kommt noch heraus, dass ich meine vermeintliche Krankengeschichte erheblich abgekürzt habe.
„Wo steckt denn eigentlich Helge?“, wunderte sich Hannes. Der lauernde Ton seiner Stimme fiel wahrscheinlich nur mir auf.
„Er ist auf dem Weg nach Kiel“, sagte Frau Brandner fröhlich. Ich flehte im Stillen zu Gott, sie in ihrer Sorg­losigkeit, was Helge betraf, zu bestärken. Wie anders sonst konnte man seine sonderbaren Kapriolen ertragen?
„Eigentlich müsste er an euch vorbeigefahren sein. Ach, ja! Der nette Kommissar, Herr Hase, hat schon vor dem Frühstück seinen Besuch für den Abend angekündigt.“
Hannes griente von einem Ohr zum anderen. Er schien sich diebisch zu freuen. „Fuchs, Frau Brandner“, sagte er mit überaus sanfter Stimme.
„Wie bitte?“, fragte die Gnädigste verblüfft und runzelte die edlen Brauen.
„Der nette Kommissar ,Hase' heißt .Fuchs'“, schwadronierte Hannes noch um einiges sanfter und setzte ein spitzbübisches Lächeln auf. Er beugte sich zu mir hinunter und wisperte: „Der gute Helge hat sich also aus dem Staub gemacht. Schade eigentlich.“
Endlich konnte ich Opa begrüßen. Er fragte ganz normal, wie es mir ginge und ob Hannes und ich einen angenehmen Tag in Lübeck verlebt hätten. Opa war eben doch der Beste; er stellte keine dummen Fragen, ließ sich nicht zu unsinnigen, kritischen Bemerkungen herab und erhob keine peinlichen Verdächtigungen.
„Ach, Tante Agnes“, säuselte Hannes mit einem Mal. „Ich würde zu gerne mal deine Fotoalben betrachten. Es interessiert mich ungemein, wie dein kleines Häuschen ausgesehen hat, als es noch ganz neu war.“ Natürlich konnte niemand außer mir ahnen, dass er ganz scharf darauf war, Fotografien zu betrachten, auf denen eine gewisse Christine Lakoda aus Bremen abgebildet ist, liebe Christine, weil ihm in Aussicht gestellt worden war, dass dieses Mädchen süßer aussehen solle als Romy Schneider.
Tante Agnes' buschige schwarze Augenbrauen schnellten unter einem Elastikhaarband bedrohlich in die Höhe, und Hannes schob schnell eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn, als könne sich deine Tante daran stören, echt witzig, Christine.
„Mein Haus war nie neu. Das war immer schon alt und sah nie anders aus als jetzt“, donnerte die gute Tante Agnes. „Aber wenn du unbedingt wissen willst, wie ich als junges Mädchen ausgesehen habe, dann kannst du dich mir sofort anschließen, junger Mann.“
Ihre von der Hitze geröteten Altweiberwangen färbten sich um eine Nuance tiefer und glühten wie die Oberfläche eines in Fahrt geratenen Bollerofens.
Ich staunte nicht schlecht über diese Antwort und dachte: Donnerwetter! Gar nicht so übel, liebe Tante Agnes, aber eben doch knapp daneben. Leni sah deine Tante an, als hätte diese soeben ihren Verstand verloren, und Mutti kicherte leise (die hatte es gerade nötig in ihrem lila Chiffon). Nur Oma zog wieder mal ein Gesicht, als habe sie an einem faulen Ei gerochen. Dabei war sie selbst mal ein ziemlich flotter Feger gewesen. Im Familienalbum klebt nämlich eine alte, bräunliche Fotografie: Oma Anita in jungen Jahren, im Badeanzug mit Gürtel, sichtbaren Knien und neckisch verspielter Badekappe.
Axel Kröger hatte missbilligend die Stirn gerunzelt. „Na, dann gute Besserung, Fräulein Kleve“, stichelte er in einem eisigen, überhöflichen Ton. Er warf mir einen letzten taxierenden Blick zu, bei dem mir die Knie zu schlottern begannen, und stiefelte kopfschüttelnd davon, nicht ohne ein allerletztes, beunruhigend intensives Auge auf meinen Fußverband, der vom Staub des Hofes schon reichlich grau geworden war, geworfen zu haben. Konnte er mir das Gegenteil von dem beweisen, was Hannes ihm vorgelogen hatte? – Nein!
Plötzlich sprang Luchs auf, der sich unter die schattige Eiche verzogen hatte und das Herrenhaus bewachte wie ein Cherub den Pfad zum Baum des Lebens, von dem Eva genascht hatte, weil sie nicht für alle Zeiten dumm bleiben wollte, und raste wie ein wild gewordener Handfeger hinter Tante Agnes und Hannes her. Ein einziger Blick dorfwärts be­stätigte meinen schlimmen Verdacht: Helge war zurückgekehrt! Offenbar hatte er etwas vergessen oder es sich mit der Fahrt nach Kiel anders überlegt. Wo sollte er sonst auch hin? Die Vorlesungen fanden schließlich erst wieder im Septem­ber statt, und wenn Herr Fuchs ihn sich unbedingt vornehmen wollte, würde er auch nicht davor zurückschrecken, ihn in der Uni aufzusuchen. Möglicherweise war dem Hoferben das unterwegs klargeworden.
„Hast du eigentlich schon gefrühstückt, Katja?“, wandte sich Oma mit honig­süßer Stimme an mich. Äußerste Vorsicht war angesagt! „Doch, klar, aber nur ein einziges Brötchen (weil Hannes alle weggefressen hatte) und natürlich noch kein lebenswichtiges Zuckerei“, gab ich unsicher zur Antwort. Alle lachten, während ich mich ernsthaft fragte, ob ich den üblichen Schuss Rotwein heute vertragen würde – nach einem derart heftigen Abend und einer solchen Nacht.
Helge, der inzwischen auf dem Hof geparkt und eine riesige Schmutzwolke hinterlassen hatte, die gar nicht daran dachte, sich aus dem Staub zu machen, wartete vor der Veranda auf uns, während Kora und Konny, die überhaupt noch nicht zu Wort gekom­men waren, mich schweigend in ihre Mitte nahmen, und so strebten wir, ein junges, unfertiges Dreierkleeblatt, ich leicht hinkend, auf das Herrenhaus zu. Frau Brander ging voran, und wir hörten sie erstaunt fragen: „Na, Sohnemann, hast du etwas Wichtiges vergessen?“
„Nein, Mutter“, sagte Helge mit devoter Stimme und musterte dabei Kora, Konny und mich mit einem eiskalten Blick. „Ich wollte mir noch ein wenig Proviant im Dorfladen für die Fahrt besorgen, als mir plötzlich einfiel, dass ich ganz vergessen hatte, meinen Studienkollegen aus Bredstedt anzurufen. Ich habe das Telefon im Geschäft benutzt und bei diesem Gespräch erfahren, dass die Vorlesungen bis zum September gestrichen sind, weil einige Dozenten auf einer Studienreise durch den Kaukasus sind. Wenn ich mich nicht irre, könnt ihr meine Hilfe hier doch gut gebrauchen?“
Er verzog das Gesicht und lächelte schief.
„Fein, mein Sohn! Da werden sich Axel und Heiner aber freuen, und ich freue mich natürlich auch darüber.“
Und wir erst, Hannes und ich, kam mir sofort in den Sinn. Ich konnte bei diesem Gedanken ein genüssliches Grinsen nur schwerlich unterdrücken und musste mir alle Mühe geben, einigermaßen ernst zu bleiben.
„Aber weshalb Proviant?“, fuhr Frau Brandner fort. „Das verstehe ich nun überhaupt nicht, Helge. Hat Leni dir denn nicht genug Brot, Schinken und Obst mitgegeben?“
„Doch, natürlich, Mutter“, Helge verzog schon wieder das Gesicht, und ich wunderte mich über sein un­ruhiges Mienenspiel.
„Aber mich überfiel plötzlich ein wahnsinniger Heißhunger auf Kuchen und Süßigkeiten.“ Er senkte merkwürdig beschämt die Augen, als sei diese Tatsache verwerflicher als beispielsweise der Mord an Knut.
Seltsam, seltsam, dachte ich, und warf einen Blick in die preussischblauen Augen unserer Gnädigsten, um herauszufinden, ob sie meine Meinung teilte, aber in der nächsten Sekunde fiel mir ein, was Mutti jetzt dachte, nämlich: ,Kuchen! ... Kuchen!, sagt Nanther, wenn er Brot hat oder hätte'. Wer Nanther ist, weiß sie ebenso wenig wie ich oder sonstwer. Wahrscheinlich ist dieser rätselhafte Nanther jemand, der Kuchen will, obgleich er Brot hat, oder Kuchen will, sofern er Brot hätte. – Na und? Was soll daran so ungewöhnlich sein, dachte ich.
***
„Du, Hannes, stell dir bloß mal vor: Helge hat vorhin mit Heribert Wegner telefoniert. Er wusste angeblich gar nicht, dass die Vorlesungen ausgefallen sind“, rief ich Hannes aufgeregt entgegen, als er vor der Laube meiner Großeltern eintraf, darin wir uns treffen wollten. Ich hatte auf Omas Drängen bereits das Zuckerei zu mir genommen, allerdings ohne den üblichen Schuss Rotwein, um das Schlimmste zu verhindern. Oma und Mutti hatten sich zwar darüber gewundert, aber sich bereitwillig gefügt, was ich mir nur damit er­klären konnte, dass alles, was ich nicht an Rotwein süffelte, ihnen zugute käme.
„Wer's glaubt“, sagte Hannes, der inzwischen dein liebliches Bildnis bei Tante Agnes bewundern durfte, liebe Christine. „Meiner Meinung nach weiß Helge schon seit Wochen, dass die Vorlesungen ausfallen werden.“
„,Meinen' Heribert Wegner hat er angerufen!“, wiederholte ich mit wehmütiger Stimme, während ich mich an das groteske Telefongespräch erinnerte. „Diesen freundlichen, sensiblen Menschen!“
„So, und ich?“, schnaub­te Hannes empört. „Wer hat dir heute Morgen das Frühstück bereitet ...?“
„Und fast alle Brötchen aufgefuttert?“, warf ich ein.
„Und wer hat den Brief an Herrn Fuchs auf die Polizeiwache …?“
„O mein Gott, der Brief! Hannes, der Brief!“, fiel ich ihm entsetzt ins Wort. „Wir müssen noch an Helge schreiben! Herr Fuchs kommt heute Abend nach Lachau.“
„Psssst!!! Nicht so laut!“ Hannes presste mir seine knochige Pranke auf den Mund und sah sich hektisch nach allen Seiten um. Ich stieß seine Hand weg, sprang auf und spähte hinter die Laube. Es war weder jemand zu sehen noch zu hören. Außer dem unaufhörlichem Summen der hundsgemeinen Stichimmen drangen nur noch vereinzelte Muhlaute vom Kuhstall herüber. Sonst war es mucksmäuschenstill. Mittagsruhe war auf Hof Lachau eingekehrt.
„Es ist so still, die Heide liegt im warmen Mittagssonnenstrahle ...“, schoss es mir mit einem Mal durch den Kopf, und ich besaß den Mut, diese Zeilen auch noch laut auszusprechen, konnte mich jedoch noch rechtzeitig beherrschen, liebe Christine, und ließ es bei der lyrischen Gedanken-Aufwallung. Hannes hält nicht viel von Gedichten. Er findet Lyrik schlichtweg überflüssig und albern.
„Wir müssen den Brief kleben, Hannes, sofort!“, nahm ich das Thema unbeirrt wieder auf. „Helge muss ihn gelesen haben, bevor das ,clevere Füchslein' hier eintrifft.“
„Dann nichts wie los!“, lächelte Hannes, und ich humpelte an seinem Arm über den Rasen zum Hof: Ein abgefeimtes Dektektivpaar, das einen Kriminalkommissar zwecks Aufklärung dreier nicht unerheblicher Fälle nach Lachau gelockt hat.

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