Fremdsprachen müsste man können

Bild von Lena Kelm
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Früh am Morgen ertönte Tschaikowskis Sterbender Schwan vom
Mobiltelefon. Verschlafen blickte Viktoria auf die unbekannte Nummer
und nahm ab. „Good morning!“, grüßte sie herrisch eine Baritonstimme,
die ihr bekannt vorkam. „Viktoria Wassiljewna? Ich bin es, Kasymbaew,
der Geschäftsleiter des Aluminiumwerkes. Sie kennen mich. Ich rede
nicht lange um den heißen Brei herum. Mein Angebot können Sie
sowieso nicht ausschlagen. Sie fliegen mit mir und einer Delegation
von Geschäftsleuten als Dolmetscherin ins Ausland. Raten Sie mal,
wohin?“ Und ohne ihre Antwort abzuwarten, redete er weiter: „Nach
Deutschland! Zum erstklassigen Standort für Weiterbildung im
Management-Business. Und Sie, Viktoria Wassiljewna, sind unsere
erste Wahl.“ Kasymbaew lachte, als hätte er einen Witz gerissen.
„Übermorgen fliegen wir nach Hannover, die Flüge sind reserviert. Sind
Sie dabei?“ Die Frage klang eher nach einer Feststellung. „Wie lange?“,
fragte die überrumpelte Viktoria. Sie war hellwach. „Fünf Tage!“ Eine
einmalige Chance, dachte Viktoria und bat um zwei Stunden Bedenkzeit.
Sie konnte nicht ablehnen, doch zuvor musste sie mit ihrer Mutter und
ihrem Sohn Anton reden.

Sie atmete tief durch, während sie sich einen starken Kaffee zubereitete.
Sie wusste, dass Anton und die Mutter sich für sie freuen würden. Sie
hörte schon Anton aufzählen: Schuhe, T-Shirts, Jacke, Rucksack –
und alles wollte er von ADIDAS. Mutter dachte eher praktisch, vor allem
an den finanziellen Gewinn. „Ein Wunder, Vicki!“, würde sie sagen,
„ich war nie im Ausland und mit fast Achtzig werde ich auch nicht mehr
reisen. Du verdienst gutes Geld. Wir könnten uns endlich einen neuen
Kühlschrank gönnen.“ Ihr Dozenten-Gehalt und Mutters geringe Rente
reichten kaum zum Überleben bei den rasant steigenden Preisen für
Lebensmittel und Dienstleistungen. Zum Glück stieg auch die Nachfrage
nach Privatunterricht für Englisch. Der Zuverdienst hielt sie über Wasser.
Geschäftsleute für Import und Export waren gefragt wie nie. Viktorias
englische Sprachkenntnisse waren perfekt. Sie unterrichtete alle
Altersklassen, Studenten, ältere Professoren, Direktoren. Erst kürzlich
leitete sie einen Intensivsprachkurs für Geschäftsleute des größten
Aluminiumwerkes Kasachstans und Russlands. Einer der Teilnehmer
war Kasymbaew. Mit ihm würde sie die neureichen Kasachen und
Russen nach Deutschland begleiten.

Als es dann soweit war, wurde Viktoria in einer Luxus-Limousine zum
Flughafen chauffiert. Es sollte ihre erste Auslandsreise werden. Im
Flugzeug erkannte sie die zwölf Geschäftsleute, die an ihrem
Kurs teilgenommen hatten, kaum wieder in ihren klassischen Anzügen,
weißen Hemden und Krawatten. Kasymbaew scherzte: „Wie die zwölf
Apostel, mit Ihnen als Chefin. Und dreizehn ist eine Glückszahl.“
Im Foyer des Hotels unterhielten sich die Geschäftsleute leise, rissen
keine Witze, niemand brach in schallendes Gelächter aus. Viktoria
wunderte sich. Wie unsicher sie sich verhielten,sie wirkten plump
trotz der feinen Anzüge, glänzendenSchuhe und teuren Koffer. Lag es
an der fremden Sprache oder der ungewohnten Atmosphäre?

Nach einem späten Abendessen im Hotel zogen sie sich auf ihre
Zimmer zurück. Sie vereinbarten, den nächsten Abend an der Bar
ausklingen zu lassen. Viktoria bezweifelte ihr Vorhaben. So schnell
wie möglich wollten die Herren ihre persönlichen Besorgungen erledigen.
Würden die Verkäuferinnen ihr Englisch verstehen? Getrauten sie sich
überhaupt, die fremde Sprache zu sprechen? Viktoria wurde gebraucht
bei den Einkäufen.

Außer den Sprachbarrieren gab es auch einige Missverständnisse.
Aus dem Hahn kam kein Wasser. Murat wusste nicht, dass man nur
die Hand darunter halten musste. Woher sollte er es auch wissen?
Aus Verzweiflung hätte er am liebsten den Hahn geköpft. Alexej
erschrak über die sich drehende Klobrille im Restaurant. Hatte er
den Defekt verursacht? Aufgeregt rief er Oleg aus der Nachbarkabine.
Plötzlich drehte sich die Klobrille in die ursprüngliche Position zurück.
Abends an der Bar gab Oleg die Geschichte zum Besten. Lebhaft
erzählte er, wie der in Panik geratene, um Hilfe rufende Murat und er
mit bloßem Hintern da standen. „Sollte ich denn ohne Hose im Gang
erscheinen? So, dass es sich rumgesprochen hätte, dass besoffene
schwule Russen schamlos halbnackt herumlaufen?“ Sie lachten schallend.

Am dritten Tag wollten die Herren etwas Besonderes erleben und ein
fremdländisches Restaurant in der Stadt besuchen. Gegen achtzehn Uhr
zogen sie los in neuen Outfits: T-Shirts, Jeans, Mokassins oder
Sportschuhen. Unterwegs entdeckten sie ein chinesisches Restaurant in
einer Pagode und beschlossen einzukehren. Ein lächelnder Kellner
brachte die Speisekarten.Viktoria bat um eine englischsprachige und
wählte vier Gerichte aus, Platten mit Hähnchen und Ente. Sie hatten
Hunger. Von den Nachbartischen duftete es verführerisch.

Ununterbrochen lächelnd servierte der Kellner,reihte Platten aneinander,
Schüsseln voller Reis, große Teller, der Platz reichte kaum aus. Auf
Stäbchen verzichteten sie. Sein ständiges Lächeln irritierte die Männer.
So viel Freundlichkeit war ihnen suspekt. Viktoria bestellte Jasmintee.
Die Männer sparten sich die Getränke, auch waren sie es nicht gewohnt,
während des Essens zu trinken. Tee, Wasser und Wein, von dem man
Kopfschmerzen bekam, waren für sie keine Männergetränke.

Viktoria wünschte allen guten Appetit und füllte sich Reis auf den Teller.
Die Männer zögerten. „Was ist los?“, fragte sie. „Brot fehlt.“ – „Dafür ist
Reis da“, sagte Viktoria. „Reis ist Reis und Brot ist Brot“, widersprach
einer. Tengiz sagte: „Zu Fleisch und Sauce muss Brot sein, oder?“ –
„Unschlagbare Logik, aber wir sind hier für ein paar Stunden in China.
Hier isst man wohl kein Brot. Ich frage mal nach.“

Der Kellner verstand sie nicht, er sprach kein Englisch. Die anderen Gäste
waren inzwischen gegangen. Die Männer formten mit den Händen
Brötchen und imaginäre Brotlaibe in die Luft. Der Kellner lächelte und
kehrte mit zwei Schüsseln Reis zurück. „Dankeschön!“, rief ihm Viktoria
nach. Resigniert betrachteten die Männer den Reis. „Jungs, lasst es euch
schmecken! Hunger ist der beste Koch. Der Reis schmeckt vortrefflich.
Ihr habt euch gewünscht, andere Kulturen zu erleben.“ Sascha nahm sich
als letzter Reis. „Wie in meiner Kindheit!“, sagte er enttäuscht. „Mutter
kochte morgens Reisbrei wegen des gesunden Schleims. Bei Oma gab es
Pfannkuchen, Omelett, Brote mit leckerer Marmelade oder knusprige Brötchen.
Vom Reis bekommt man Schlitzaugen, hat sie immer gesagt, und vom Brot
große runde Augen, mit denen man gut sehen kann und rote Wangen,
Zeichen von Gesundheit und Kraft. Du willst doch kräftig werden, sagte sie.
Zu jeder Mahlzeit gab es frisches Brot.“ Die Männer lachten, offensichtlich
waren sie derselben Meinung. Oleg sagte: „Unser tägliches Brot gib uns
heute, sagt man zum lieben Gott, nicht unseren täglichen Reis!“ Trotzdem
sahen die Platten nach dem Essen wie geleckt aus, auch vom Reis blieb
nicht viel übrig.

Als Viktoria zur Toilette ging, sah sie aus dem Augenwinkel den
lächelnden Kellner ein Tablett mit kleinen Schalen zu ihrem Tisch
balancieren. Die Schälchen der Männer waren leer, als si zurückkam.
Verblüfft betrachtete sie das Schälchen mit Wasser und der Zitronenscheibe
vor sich. „Eigentlich müsste man Nachschlag verlangen. Das war zu
wenig, um den Durst nach den Mengen Reis, die jetzt im Bauch wie
Klumpen kleben, zu löschen.“, beschwerte sich Raschid. Viktoria hatte
von dem Brauch gelesen. „Darin solltet ihr eure fettigen Finger reinigen!“
Auf einmal war es ganz still am Tisch, dann brachen sie in Lachen aus.
Sie beruhigten sich erst, als der lächelnde Kellner sie nach weiteren
Wünschen fragte. Viktoria bat um die Rechnung. „Nicht umsonst heißt es,
chinesisch ist, was man nicht versteht. Aber die Hände am Tisch zu waschen,
das übersteigt die Phantasie eines kultivierten Kasachen und Russen.“,
brummte Kasymbaew missbilligend. „Völkerverständigung ist keine
einfache Sache.Sprachen muss man lernen.“, erwiderte Viktoria.

Das letzte Wort behielt wie immer Boris, der Witzbold in der Gruppe.
„Die Katze steht vor dem Mauseloch und ruft: Hau, hau! Die Mau schlüpft
heraus und die Katze fängt sie. Fremdsprachen müsste man können!",
sagt die Katze und leckt sich das Maul.

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Im Prinzip gibt es alles - Erzählungen
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