Sie war wahrscheinlich nicht die Erste, aber die Erste, die radikale Konsequenzen gezogen hat: Käthe Wohlfahrt. „Deutschland ist das Weihnachtsland.“ Und Rothenburg, so heißt es jedenfalls auf der schön gestrichenen Hausmauer, ist: „Käthe Wohlfahrt Weihnachtsdorf“. Ist man in Brisbane oder Vancouver, muss man sich Gedanken machen, wo der Weihnachtsmann seine Hangars wohl stehen hat. Die Kinder Amerikas wissen: am Nordpol, wo die neun Rentiere von den Eiszapfen schlecken. Aber nun ehrlich! Christbaumkugeln und Actionfiguren, werden die denn am Nordpol gehärtet? Nicht beim Exportweltmeister Deutschland mit einer notorisch heinzelmännlichen Akkuratesse? Ist nicht im Dezember das ganze Land - zwar nicht voller Schnee, aber: - voller Weihnachtsmärkte? Und ist die Vorweihnachtszeit nicht die gute Saison für den Rothenburg-Tourismus? In der alten Reichsstadt geht Weihnachten das ganze Jahr lang. Weihnachten ist ja nicht, es muss vor allem doch präpariert werden.
Und verkauft. Dachte Käthe Wohlfahrt. Beziehungsweise, ganz am Anfang dachte es sich ja der Wilhelm Wohlfahrt, ein Sachse, und Käthes Gatte, welcher Spieluhren bauen konnte. Der fing in Herrenberg bei Stuttgart an und verkaufte die stimmungsvolle Ware ans amerikanische Militär. In prophetischer Voraussicht schwenkte er eines Tages von den ausländischen Soldaten zu den Touristen, zog nach Rothenburg ob der Tauber, eröffnete dort den ersten, für jedermann zugänglichen Laden, in dem rund ums Jahr Weihnachten ist und verkauft wird. Innig säuseln die entsprechenden Lieder im Hochsommer vom Band. Wie in der Geschichte von Heinrich Böll.
Alles ist zu kriegen: Seiffener Tannenbäumchen, erzgebirgische Engel mit Silberhaar, Christbaumschmuck aus Lauscha, über Kerzenflammen sich windende Weihnachtspyramiden, Schwibbögen, Engelchoräle, Geschnitztes aus dem oberbayerischen Isar-, Ammer- oder Herrgottswinkel. Von hier ausgehend, aus dieser schönen Herrenstraße in Rothenburg ob der Tauber, ist das Wohlfahrt’sche Ewig-Weihnachten Welt umspannend gewachsen. Filialen gibt’s schon in Bamberg, Nürnberg, Heidelberg, Rüdesheim, Oberammergau, Garmisch-Partenkirchen, Berlin, Brügge, Riquewihr (Elsass) sowie in Stillwater, Minnesota. Jährliche Weihnachtsmarktpräsenz an zahlreichen Plätzen in den USA, in Kanada und Japan.
Nebenbei: Es gibt keinen Rothenburger Wald! Rings um die Stadt dehnen sich die hügeligen Äcker viele Kilometer baum- und sprachlos hin! Einzig der Abhang zum Taubertal hinab, an dem von Jahrhunderten vor allem Wein wuchs, ist von einem kargen Zauberwaldgürtel bedeckt.
Außerdem gibt’s in Rothenburg jetzt noch einen Laden für Steiff-Bärchen. Sie kommen vom schwäbischen Brenzflüsschen herauf, aus Giengen, aber wen kümmert’s? Für Rothenburg sind sie genau richtig. Auch in Rothenburg kauft man nämlich heute die Güter seines täglichen Bedarfs vor dem Tore, nicht unterm Lindenbaume, sondern in den Kettenmärkten mit den großen Einkaufswagen und den großzügigen Parkflächen. Die Lädchen im Kern, dort, wo unterdessen sonst überall diese Solarien, Internetwettbüros, Phone Shops, Billig-Boutiquen und Nagelbekleber auf unsere Zuwendung warten, in Rothenburg sind sie an die wilhelminischen Burschenschafter-Bierseidel, Schwertimitationen, Zinnteller, Kristallgläser, Hindenburg-Porträts, Porzellanpuppen, Ansichtskarten und Designertücher abgegangen.
Wo stammt der riesige überoberdeutsche Segen nur her? Bestimmt zum kleineren Teil aus dem Erzgebirge oder Bayerischen Wald. Aus Rothenburg eh nicht. Wo wäre denn hier ein Atelier oder Fabrikle, in dem dergleichen Artikel entstünden, in Handarbeit am Ende? Stellen wir uns also einen blutjungen Management-Studenten aus Tokio vor, wie er in Rothenburg seinen ersten original Heidelberger Studentenkrug mit Zinndeckel ersteht, den ein Werk in China nach Vorgaben eines Importeurs aus Meerbusch produziert hat.