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Frederike wohnt in einem der letzten unsanierten Häuser im Friedrichshain. Das Kohlenschleppen im Winter ist ätzend. Aber sie betrachtet den saisonalen Weg vom Keller in die zweite Etage, in der ihre Wohnung liegt, als körperliche Ertüchtigung. Deswegen verzichtet sie in den Wintermonaten auf sportliche Aktivitäten. Nur in einem langen Winter kann es vorkommen, dass sie am Ende auf das Heizen und auch auf die Bewegung ganz verzichtet und den Tag im wärmenden Bett verbringt. Dafür ist die Miete bezahlbar, und im Moment ist Sommer, die winterlichen Anstrengungen sind dem sonnigen Charme ihrer Wohnung gewichen.
Frederike springt die Treppen hinunter, will in den Park, das schöne Wetter genießen. Das kann sie sich leisten, denn sie ist arbeitslos.
Im Hausflur bei den Briefkästen steht Herr Cherek. Ein alter Mann, der direkt unter Frederike wohnt. Er lebt schon über dreißig Jahre in diesem Haus. Seine Wurzeln haben sich fest in den Räumen seiner Wohnung verankert. Im Gegensatz zu den anderen Nachbarn hat er sich noch nie beschwert, wenn Frederike ihre Trommeln im Haus erklingen lässt.
Er hält einen Brief in Händen und liest ihn mit bekümmertem Blick.
„Schlechte Neuigkeiten?“, fragt Frederike.
„Allerdings“, antwortet Herr Cherek. Zweifelnd sieht er sie an und hält ihr das beschriebene Blatt Papier unter die Nase. Es ist eine Sanierungsankündigung für das Haus.
„Da brauche ich meinen Briefkasten ja gar nicht erst zu öffnen“, entfährt es Frederike bestürzt. Die Aussicht auf Luxus hat sich für sie nur allzu oft als Nepp oder als unerschwinglich herausgestellt. Trotzdem will sie ihrem Nachbarn Mut machen.
„Für Sie, Herr Cherek, ist das doch nicht das Schlechteste. Wenn Sie keine Kohlen mehr schleppen, müssen sie auch nicht mehr so oft auf dem Treppenabsatz verschnaufen.“
Dort auf dem Treppenabsatz vor Herrn Chereks Wohnung gibt es einen Stuhl und Pflanzen, die zur Rast einladen, denn er ist, wie gesagt, ein alter Mann und nicht mehr gut zu Fuß.
„Du bist ein gutes Kind.“ Auf Herrn Chereks Gesicht zeigt sich ein väterliches Lächeln. „Letztens war der Vermieter bei mir und hat mir nahe gelegt, ich solle mich um neuen, meinem Alter gerechten Wohnraum kümmern.“
„Hat der jetzt seine soziale Ader entdeckt?“ In Frederikes Bestürzung mischt sich ungläubiges Erstaunen.
„Nein.Ihn stört mein Stuhl im Treppenhaus. Er meint, ich würde damit das Treppenhaus wie Wohnraum behandeln, ohne dass ich dafür Miete zahle. Außerdem kann er bei meinem alten Mietvertrag die Miete nicht nach seinen Wünschen erhöhen. Da werde ich wohl nicht viel unternehmen können.“ Mit einem tiefen Seufzer verabschiedet er sich von Frederike.
Sie geht in den nächsten Park, kann die Sonne aber nicht richtig genießen, denn sie muss ständig darüber nachdenken, wie der Rausschmiss des Nachbarn zu verhindern sei. Wer weiß, ob sie nicht Ähnliches erwartet.
Immer noch grübelnd geht Frederike am Abend wieder nach Hause. Auf dem Weg trifft sie Herrn Weber, auch ein Nachbar aus dem Haus. Er wohnt noch nicht lange dort und hat sich auch noch nicht wegen ihrer Musik beschwert. Deswegen grüßt sie ihn freundlich. Da er mit Koffern bepackt ist, passt sie sich seinem Tempo an.
„Guten Tag! Kommen wohl von weit her?“
„Ja, ich war in Lateinamerika.“
„Ah, Urlaub? Muss schön sein dort.“
„Ja, ist es. Aber ich fahre nicht nur der schönen Landschaft wegen dahin. Ich bin Entomologe.“
„Entomologe? Sagt mir nichts. Nach was suchen Sie denn da?“
„Ja, grundsätzlich nach Insekten, aber ich habe mich auf Kakerlaken spezialisiert.“
„Kakerlaken.“ Unwillkürlich muss sich Frederike schütteln. „Würde ich nicht in meine Hosentasche stecken.“
„Sie sind präpariert, wenn sie in meine Sammlung kommen. Aber hier in Mitteleuropa gibt es sowieso nur vier Kakerlakenarten. Ganz schön arm, die Gegend, wenn man bedenkt, dass es weltweit dreitausendfünfhundert davon gibt.“
„Das ist natürlich ein Grund, die Erde zu bereisen. Bei mir reicht das Geld leider nicht mal, um bis zur Ostsee zu kommen.“ Sie haben das Haus erreicht und gehen die Treppe hinauf, vorbei an Herrn Chereks Stuhl.
„Musst du dir einen Job suchen, wenn du große Sprünge machen willst.“
„Ach, ich habe immer Stress mit den Chefs. Ist wohl besser, wenn ich mich auf die Nachbarschaftshilfe bei Herrn Cherek konzentriere.“
Sie stehen vor der Wohnungstür und hören den alten Mann fluchen.
„Ich glaube, ich klingel mal“, sagt Frederike, „hört sich gar nicht gut an.“
Die Tür öffnet sich, und Herr Cherek steht fassungslos vor ihnen.
„Was ist denn los?“, fragt sie besorgt.
„Ungeziefer, ich habe Ungeziefer in meiner Küche! Das hatte ich noch nie, weiß gar nicht, wo die Viecher herkommen“, keucht er. „Ich putze doch jede Woche gründlich!“
„Lassen Sie doch mal sehen.“ Herr Weber stellt seine Koffer ab und geht zielsicher in Herrn Chereks Küche.
„Beruhigen Sie sich, Herr Cherek“, redet Frederike auf den verzweifelten Mann ein. „Sicher haben sich die Tiere durch den Luftschacht aus der Kneipe unten zu ihnen rauf verirrt.“ Sie folgen Herrn Weber in die Küche. „Ist schon seltsam, dass die einfach so auftauchen. Ist aber auch ein heißer Sommer dieses Jahr.“
„Nichts Ungewöhnliches“, sagt Herr Weber, „Nur eine Blattella germanica, die deutsche Küchenschabe. Müssen Sie unbedingt bekämpfen, bekommen Sie sonst nicht wieder los.“
„Ja, danke für die Information, Herr Weber.“ Frederike fällt es schwer, freundlich zu bleiben. „Das hilft uns aber weiter.“
Aber Herr Weber bleibt gelassen.
„Tja, ich muss dann los. Wenn du mal Lust hast, dir meine Sammlung anzusehen, klingle einfach. Guten Tag.“ Mit diesen Worten verschwindet Herr Weber und lässt Frederike mit dem alten Mann allein. Sie beseitigen die Kakerlakenleichen, und dann verabschiedet auch sie sich.
Ein paar Tage später, die Nachbarn mit Arbeit sind schon länger aus dem Haus, will Frederike Schrippen für das Frühstück holen. Auf dem Treppenabsatz zu Herrn Chereks Wohnung bleibt sie wie angewurzelt stehen. Was gestern noch eine belebte Oase im kahlen Hausflur war, gleicht heute der Wüste eines Kampffeldes. Der Stuhl, der zur Rast einlud, liegt zertrümmert auf dem Boden. Ein Poster hängt in Fetzen von der Wand, und die Pflanzen liegen zerschmettert auf dem Hof. Sie