„Setz dich, Barney. Willst du einen Kaffee? Oder etwas anderes? Bier?“
„Aaach, Anni! Ich bin froh, dass ich jetzt ein bisschen zur Ruhe komme. Ja, ein Kaffee, das wäre schön.“
Barney fleezte sich in den Sessel und streckte alle Viere von sich, den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Er atmete tief aus und wirkte plötzlich komplett relaxt. Nichts mehr zu spüren von der Anspannung, die seinen Körper beim Lauf wie eine Sprungfeder elastisch springen ließ, auch seine Gesichtszüge entspannten sich, auf einmal wirkte seine Haut um 15 Jahre gealtert.
Anni war inzwischen in die Küche gegangen, und er hatte sie wirtschaften hören, Schranktüren, die klapperten, Wasser, das sie in den Behälter der Kaffeemaschine laufen ließ, Klirren von Geschirr, das Klappen der Kühlschranktür. Er kannte alle diese Geräusche, er war schon öfter hier gewesen und im Laufe der Zeit hatte sich so etwas wie ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt.
Hier durfte er sein, wie er sich gerade fühlte und Anni nahm ihn so, wie er war. Umgekehrt genauso. Na klar, anfangs hatten sie sich beschnuppert, ist so, wenn man jemanden nur aus Erzählungen kennt. Aber in der Zwischenzeit wussten sie beide, was der eine vom anderen zu halten hatte.
Er mochte an ihr ihre Zuverlässigkeit. Wenn sie etwas zusagte, hielt sie ihre Versprechen immer ein. Deutsche Gründlichkeit eben. Außerdem imponierte ihm, dass sie sich in nichts hineinreden ließ. Zwar hörte sie sich alle möglichen Argumente an, ob sie jemanden mochte oder nicht, aber sie entschied immer so, wie es ihr passte. Ihr war ziemlich egal, was die anderen davon hielten.
Klar, waren sie auch schon das eine oder andere Mal aneinander geraten, aber für alles gab es eine Lösung. „Einem sprechenden Menschen kann geholfen werden“, sagte sie immer.
Anni hatte inzwischen den Kaffee fertig und kam mit einem Tablett zurück ins Wohnzimmer. Unterteller, Tassen, Kaffeelöffel, echte Sahne, Zucker – und ein Tellerchen mit selbstgebackenen Plätzchen. Er schaute ihr zu, wie sie alles auf dem kleinen Tisch anordnete. Als sie das Tablett senkrecht neben den Tisch stellte und sich selber auf die Couch setzte, straffte er sich wieder und richtete sich auf, die Zuckerdose schon in der Hand, bevor Anni noch fertig war mit dem Eingießen.
Anni mochte es, wie seine langen, schlanken, braunen Finger die kleine weiße Zuckerdose so vorsichtig hielten, als sei es Meißner Porzellan. Sie hatte sich schon gedacht, dass er völlig fertig sein würde, wenn er endlich Zeit hätte, bei ihr vorbeizuschauen. Er nahm seine Verpflichtungen sehr ernst, und jetzt, wo seine Verabschiedungstour ihn noch einmal durch fast den gesamten Westen führte, wusste sie, wie viel Energie es ihn kosten würde, beides noch etwas zu kaschieren: sowohl seine Enttäuschung wie auch seine Erleichterung. Ob er es wirklich schaffen würde, in den paar noch verbliebenen Tagen seinem designierten Nachfolger alles Nötige mitzugeben? Schließlich war das ein Quereinsteiger, der den Konzern eigentlich nur aus Publikationen, TV und Erzählungen, nicht als Insider kannte. Er hatte sich aufstellen lassen, weil ihm als Großmaul dieser eine Stein in seiner selbstgeschnitzten Krone noch fehlte, und war total überrascht worden davon, dass so viele Aktionäre im ersten Durchlauf ihm ihre Stimme gegeben hatten; ernsthaft damit gerechnet hatte er eher nicht, war dann aber überrollt worden und konnte keinen Rückzieher mehr machen.
Jetzt musste er in Barneys große Fußstapfen treten und versuchen, sie auszufüllen. Und Barney musste die ihm verbliebene Zeit möglichst gut nutzen, ihm die Spielregeln auf eine Art verständlich zu machen, die dem Neuen eine Chance gab, das Unternehmen nicht an die Wand zu fahren und mit dem Hintern einzureißen, was er, Barney, mit so viel Sorgfalt aufgebaut hatte.
Anni wusste, dass ihm auf der einen Seite die nun bald beginnende Freiheit von der Verantwortung wie eine saftige Karotte vor der Nase baumelte, auf der anderen dachte sie, dass ihn eben diese Verantwortung noch eine geraume Zeit begleiten würde, denn er war ein ernstzunehmender Konzernchef gewesen. Ob er sich je komplett davon frei machen könnte? Sie freute sich jedenfalls, dass er sich so viel Zeit nahm für sie.
Die Kaffeelöffel klirrten beim Umrühren leise in den Tassen.
„So, Anni,“ brach Barney das Schweigen zwischen ihnen, „was ist denn nun los, sag mal? Hast du dich nun entschieden?“
Obwohl sich der Zucker schon lange gelöst haben musste, rührte Anni noch immer gedankenverloren in ihrer Tasse. Er wartete geduldig ab, denn er konnte sich denken, was alles hinter ihrer Stirn ablief.
Sie streifte den Kaffeelöffel zweimal über den Tassenrand und legte ihn in Zeitlupe auf dem Unterteller ab.
„Naja“, fing sie nachdenklich ihre Antwort an und er lauschte ihr vorgebeugt. „Weißt du, das ist so: Eigentlich möchte ich den Job ja auch an den Nagel hängen, nach all den Jahren. Einerseits. Ich stelle es mir toll vor, mehr Zeit für mich und Wolfi zu haben, spazieren gehen, ins Theater, in Konzerte, vielleicht wieder ein bisschen in die Forschung, so freizeitmäßig, ohne Erfolgsdruck … Pläne haben wir ja schon in der Schublade.“
„Ja“, nickte Barney, „das ist schon ein großer Traum, das kann ich dir sehr gut nachfühlen. Mia und die Mädchen freuen sich auch darauf, dass wir jetzt wieder mehr Familie sein können. Wenn wir denn können …“
Er trank ein paar Schlucke aus der Tasse, stellte sie dann ab und griff sich einen der Kekse, den er zwischen den Fingern drehte.
„Ich habe so darauf gewartet, dass dich dein Weg endlich zu mir führt!“, sagte Anni und schaute ihm in seine braunen Augen. „Ich habe keine Ahnung, wie ich mich entscheiden soll. Ich lege großen Wert auf deine Meinung, das weißt du.“
Er nickte und knabberte an der Spitze des gebackenen Weihnachtsbaumplätzchens. Ein Krümel fiel herunter, aber der verlor sich in dem langen Flor des Teppichs.
„Und langsam kann ich sie auch nur noch schwer hinhalten. Sie wollen einfach wissen wie es weitergeht.“ Anni nahm sich einen gebackenen Kometen und biss mit einem Happs den Stern ab.
„Ich dachte ja – wahrscheinlich wie du -“, ergänzte sie, „dass für die Zukunft die Wege geebnet seien. Es sah alles so logisch aus und wäre ganz friedlich weitergegangen wie bisher, alles in geordneten Bahnen …“
Fast zeitgleich hoben sie die Tassen zu einem nächsten Schluck und stellten sie auch wieder synchron ab.
„Ja“, sagte jetzt Barney, „und dann das. Das war nicht vorauszusehen, wirklich nicht. Ganz ehrlich, so sehr ich dir deinen Ruhestand gönne, mir wäre wohler, du würdest noch eine Wahlperiode dranhängen. Wenn du jetzt auch noch die Segel streichst – haben wir gar keine Sicherheiten mehr. Das Kartenhaus wackelt an allen Ecken und Enden. Du kannst wie ein Stabilisierungstank bei einem Erdbeben auf einem Hochhaus wirken – versteh mich nicht falsch, bitte.“
„Weißt du“, aus Anni seufzte es, „genau so habe ich mir das gedacht. Dass du das sagen würdest. Und irgendwo hast du ja auch recht. Wenn alles ringsum in Bewegung ist, sollte es wenigstens einen Ruhepol geben.“
„Und das kannst du gut, Anni“, nickte Barney, „Ausharren war schon immer deine Stärke. Ich verspreche dir auch, dass ich dich öfter besuchen komme, mit Mia zusammen, die ist auch immer gerne hier, genau wie ich. Dann haben wir auch mehr Zeit für einander und ich helf‘ dir, wenn du magst.“
„Na gut, dann machen wir das so!“, Anni griff zum Handy, „Du entschuldigst, ja? Ich will nur schnell Bescheid sagen, dass ich für die nächsten vier Jahre wieder zur Verfügung stehe.“
noé/2016