Die drangläubige Stadt

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von Alf Glocker

Es gab einmal, im frühen Spätmittelalter (oder war es die spätere Frühsteinzeit?) eine Stadt, die ihre Bewohner „Friedensherrenberg“ nannten. In den Sagen und Märchen ist sie uns als „Rattenburg“, als „Eselsheim“, oder eben als die „drangläubige Stadt“ erhalten geblieben.

Ihr Bürgermeister war ein vertrottelter Faltendackel und seine Frau eine hinterhältige Giftmischerin, die durch zahlreiche gute Taten auffiel. Die Bürgerschaft setzte sich einerseits aus übellaunigen Pfeffersäcken und andererseits aus willfährigen Dorftrotteln zusammen, mit denen der Klüngel machen konnte was er wollte.

Das zahlte sich mit der Zeit so sehr aus, daß überall auf der Welt großer Neid entstand, so daß man Friedensherrenberg zu hassen begann. Der Reichtum der Stadt sprach sich so sehr herum, daß sich sogar die Kakerlaken aufmachten die Stadtküchen aufzusuchen, um dort ihre Jungen großzuziehen. Darüber freuten sich die Friedensherrenberger aber sehr ...

Denn die Giftmischerin hatte verkündet, daß Friedensherrenberg nur deshalb Friedensherrenberg heiße, weil dort Frieden herr-sche – uneingeschränkter Friede, der eben auch für Kakerlaken zu gelten habe. Die Bürger nannten das eine „Willkommenskultur“, denn es war bei hohen Strafen verboten, die Kakerlaken zu vertreiben oder auch nur zu beleidigen.

Ein ganze Weile ging das relativ gut und Friedensherrenberg wuchs und gedieh solange weiter, bis schließlich die Ratten auf die große Stadt aufmerksam wurden. Und als in den Ländereien der Rattenfürsten die Pest ausbrach, kamen auch sie und bevölkerten zunächst die leerstehenden Häuser, dann baute man extra für sie neue und plötzlich waren sie überall!

Mit ihnen aber kam die Pest und als die ersten Leute, von ihr getroffen, tot umfielen, sagte der vertrottelte Faltendackel „auch gut“ und „das ist ein Einzelfall, von dem wir uns nicht beeindrucken lassen dürfen“. Seine Frau, die Giftmischerin, stimmte ihm freudig zu und der Obergeistliche verkündete völlig verwirrt: „Wer den Rattenfänger holt, der kommt in die Hölle!“.

Nichts durfte verändert werden. Aber zum Schutz der Bevölkerung wurden nun entsprechende „Maßnahmen“ ergriffen: man hielt Gedenkgottesdienste ab! Immer wenn die Pest wieder einige Menschen dahingerafft hatte, zelebrierte man einen davon. Und der zuständige Priester des jeweiligen Sprengels ermahnte die Gläubiger, die Gläubigen, jetzt nicht aufzugeben.

Die armen Ratten hätten mit dem Ausbruch der Pest so wenig zu tun, wie die Sünde mit der Vertreibung aus dem Paradies, da dürfe auf keinen Fall pauschalisiert werden. Die Liebe sei oberstes Gebot – die Nächstenliebe – und egal wie viele Ratten auch noch in die Stadt kämen, sie müssten einfach geliebt werden, denn wer sie nicht liebte, der könne auch sich selbst nicht lieben. Da aber sei Gott vor!

Mit der Zeit wurden die Opfer immer mehr und die Gedenkgottesdienste immer prächtiger, die Reden immer diffuser, aber die Fantasie, warum die Pest mit den Ratten nichts zu tun haben könne, immer reicher. Inzwischen vermehrten sich die Ratten immer effizienter und schließlich wurde sogar ein Rattenmännchen, anstelle des vertrottelten Faltendackels, Bürgermeister der Stadt. Die Giftmischerin wurde nun seine Frau.

Die Pest aber avancierte von einer Epidemie zur Weltanschauung – weshalb nun die Leichenkarren für alteingesessene Bürger zum beliebtesten (Hin)Fortbewegungsmittel wurden ... wer etwas auf sich hielt, der ließ sich damit abtransportieren! Mit anderen Worten: es mussten alle dran glauben. Deshalb ist uns die Stadt auch unter dem Namen „die drangläubige Stadt“ Rattenberg, wie auch Eselsheim, im Gedächtnis geblieben.

Dies ist aber in Wirklichkeit gar kein Märchen und auch keine komische Wirklichkeit, sondern die komischste Wirklichkeit aller Zeiten. In den Ländereien der Ratten lacht man heute noch über sie – und dort, wohin sich die Überlebenden geretten hatten, spricht man mit Ehrfurcht über die gewaltigen Gedenkgottesdienste im ehemaligen Friedensherrenberg. Ja, das war eine goldene Epoche!

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