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herum; wenn ich mir's nachließe, es gäbe eine ganze Litanei von Antithesen.
Am 24. November
Sie fühlt, was ich dulde. Heute ist mir ihr Blick tief durchs Herz gedrungen. Ich fand sie allein; ich sagte nichts, und sie sah mich an. Und ich sah nicht mehr in ihr die liebliche Schönheit, nicht mehr das Leuchten des trefflichen Geistes, das war alles vor meinen Augen verschwunden. Ein weit herrlicherer Blick wirkte auf mich, voll Ausdruck des innigsten Anteils, des süßesten Mitleidens. Warum durft' ich mich nicht ihr zu Füßen werfen? Warum durft' ich nicht an ihrem Halse mit tausend Küssen antworten? Sie nahm ihre Zuflucht zum Klavier und hauchte mit süßer, leiser Stimme harmonische Laute zu ihrem Spiele. Nie habe ich ihre Lippen so reizend gesehn; es war, als wenn sie sich lechzend öffneten, jene süßen Töne in sich zu schlürfen, die aus dem Instrument hervorquollen, und nur der heimliche Widerschall aus dem reinen Munde zurückklänge – ja wenn ich dir das so sagen könnte! – ich widerstand nicht länger, neigte mich und schwur: nie will ich es wagen, einen Kuß euch aufzudrücken, Lippen, auf denen die Geister des Himmels schweben. – Und doch – ich will – ha! Siehst du, das steht wie eine Scheidewand vor meiner Seele – diese Seligkeit – und dann untergegangen, diese Sünde abzubüßen – Sünde?
Am 26. November
Manchmal sag' ich mir: dein Schicksal ist einzig; preise die übrigen glücklich – so ist noch keiner gequält worden. – dann lese ich einen Dichter der Vorzeit, und es ist mir, als säh' ich in mein eignes Herz. Ich habe so viel auszustehen! Ach, sind denn Menschen vor mir schon so elend gewesen?
Am 30. November
Ich soll, ich soll nicht zu mir selbst kommen! Wo ich hintrete, begegnet mir eine Erscheinung, die mich aus aller Fassung bringt. Heute! O Schicksal! O Menschheit!
Ich gehe an dem Wasser hin in der Mittagsstunde, ich hatte keine keine Lust zu essen. Alles war öde, ein naßkalter Abendwind blies vom Berge, und die grauen Regenwolken zogen das Tal hinein. Von fern seh' ich einen Menschen in einem grünen, schlechten Rocke, der zwischen den Felsen herumkrabbelte und Kräuter zu suchen schien. Als ich näher zu ihm kam und er sich auf das Geräusch, das ich machte, herumdrehte, sah ich eine gar interessante Physiognomie, darin eine stille Trauer den Hauptzug machte, die aber sonst nichts als einen geraden guten Sinn ausdrückte; seine schwarzen Haare waren mit Nadeln in zwei Rollen gesteckt, und die übrigen in einen starken Zopf geflochten, der ihm den Rücken herunter hing. Da mir seine Kleidung einen Menschen von geringem Stande zu bezeichnen schien, glaubte ich, er würde es nicht übelnehmen, wenn ich auf seine Beschäftigung aufmerksam wäre, und daher fragte ich ihn, was er suchte? – »Ich suche«, antwortete er mit einem tiefen Seufzer,« Blumen – und finde keine«. – »Das ist auch die Jahrszeit nicht.« sagte ich lächelnd. – »Es gibt so viele Blumen«, sagte er, indem er zu mir herunterkam. »In meinem Garten sind Rosen und Jelängerjelieber zweierlei Sorten, eine hat mir mein Vater gegeben, sie wachsen wie Unkraut; ich suche schon zwei Tage darnach und kann sie nicht finden. Da haußen sind auch immer Blumen, gelbe und blaue und rote, und das Tausendgüldenkraut hat ein schönes Blümchen. Keines kann ich finden«. – Ich merkte was Unheimliches, und drum fragte ich durch einen Umweg: »was will er denn mit den Blumen?« – Ein wunderbares, zuckendes Lächeln verzog sein Gesichte. »Wenn er mich nicht verraten will,« sagte er, indem er den Finger auf den Mund drückte, »ich habe meinem Schatz einen Strauß versprochen«. – »Das ist brav«, sagte ich. – »O!« sagte er, »sie hat viel andere Sachen, sie ist reich«. – »Und doch hat sie seinen Strauß lieb«, versetzte ich. – »O!« fuhr er fort, »sie hat Juwelen und eine Krone«. – »Wie heißt sie denn?« – »Wenn mich die Generalstaaten bezahlen wollten,« versetzte er, »ich wär' ein anderer Mensch! Ja, es war einmal eine Zeit, da mir es so wohl war! Jetzt ist es aus mit mir. Ich bin nun«. Ein nasser Blick zum Himmel drückte alles aus. – »Er war also glücklich?« fragte ich. – »Ach ich wollte, ich wäre wieder so!« sagte er »Da war mir es so wohl, so lustig, so leicht wie einem Fisch im Wasser!« – »Heinrich!« rief eine alte Frau, die den Weg herkam, »Heinrich, wo steckst du? Wir haben dich überall gesucht, komm zum Essen«. – »Ist das euer Sohn?« fragt' ich, zu ihr tretend. – »Wohl, mein armer Sohn!« versetzte sie. »Gott hat mir ein schweres Kreuz aufgelegt«. – »Wie lange ist er so?« fragte ich. – »So stille«, sagte sie, »ist er nun ein halbes Jahr. Gott sei Dank, daß er nur so weit ist, vorher war er ein ganzes Jahr rasend, da hat er an Ketten im Tollhause gelegen. Jetzt tut er niemand nichts, nur hat er immer mit Königen und Kaisern zu schaffen. Er war ein so guter, stiller Mensch, der mich ernähren half, seine schöne Hand schrieb, und auf einmal wird er tiefsinnig, fällt in ein hinziges Fieber, daraus in Raserei, und nun ist er, wie Sie ihn sehen. Wenn ich Ihnen erzählen sollte, Herr«. – Ich unterbrach den Strom ihrer Worte mit der Frage: »was war denn das für eine Zeit, von der er rühmt, daß er so glücklich, so wohl darin gewesen sei?« – »der törichte Mensch!« rief sie mit mitleidigem Lächeln, »da meint er die Zeit, da er von sich war, das rühmt er immer; das ist die Zeit, da er im Tollhause war, wo er nichts von sich wußte«. – Das fiel mir auf wie ein Donnerschlag, ich drückte ihr ein Stück Geld in die Hand und verließ sie eilend. Da du glücklich warst! Rief ich aus, schnell vor mich hin nach der Stadt zu gehend, da dir es wohl war wie einem Fisch im Wasser! – Gott im Himmel! Hast du das zum Schicksale der Menschen gemacht, daß sie nicht glücklich sind, als ehe sie zu ihrem Verstande kommen und wenn sie ihn wieder verlieren!
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Wiki: Die Leiden des jungen Werthers lautet der ursprüngliche Titel des von Johann Wolfgang von Goethe verfassten Briefromans, in dem der junge Rechtspraktikant Werther bis zu seinem Suizid über seine unglückliche Liaison zu der mit einem anderen Mann verlobten Lotte berichtet. Er war nach dem nationalen Erfolg des Dramas Götz von Berlichingen (1773) Goethes zweiter großer, jetzt sogar europäischer Erfolg (1774) und ist, wie der Götz, ebenfalls der literarischen Strömung des Sturm und Drang zuzuordnen.
Die Erstausgabe erschien im September 1774 zur Leipziger Buchmesse und wurde gleich zum Bestseller. 1787 überarbeitete Goethe den Roman, wobei unter anderem das Genitiv-s im Titel entfiel. Der Roman ließ Goethe 1774 gleichsam über Nacht in Deutschland berühmt werden und gehört zu den erfolgreichsten Romanen der Literaturgeschichte