Dämmrung senkte sich von oben,
Schon ist alle Nähe fern;
Doch zuerst emporgehoben
Holden Lichts der Abendstern!
Alles schwankt ins Ungewisse,
Nebel schleichen in die Höh’;
Schwarzvertiefte Finsternisse
Widerspiegelnd ruht der See.
Nun im östlichen Bereiche
Ahn’ ich Mondenglanz und -glut,
Schlanker Weiden Haargezweige
Scherzen auf der nächsten Flut.
Durch bewegter Schatten Spiele
Zittert Lunas Zauberschein,
Und durchs Auge schleicht die Kühle
Sänftigend ins Herz hinein.
Wiki: Mit den Chinesisch-Deutsche(n) Jahres- und Tageszeiten, die 1830 im Berliner Musen-Almanach herausgegeben wurden und neben den romantischen Gedichten der anderen Autoren seltsam fremd wirkten, wandte sich der betagte Goethe ein weiteres Mal nach Osten.
Er übertrug einige Movive aus chinesischer Lyrik und Novellistik – Mandarine, Pfauen, Weiden – in eine eigentümliche Dichtung und schuf so seinen letzten lyrischen Zyklus. Obwohl der Titel einen deutlichen Hinweis gibt, lässt sich, von den erwähnten Elementen abgesehen, genuin Chinesisches nur am Rande finden. Goethe konzentrierte sich auf ein Naturmotiv, eine Landschaft oder Stimmung. Bei häufig eigenwilliger Syntax verdichtete er die Sprache, steigerte hingegen die Aussagekraft.
Wie später der Goetheverehrer Stefan George im Jahr der Seele bezog er die Jahreszeiten ein, vollendete aber mit Frühling, Sommer und Herbst nicht den ganzen Kreis.
Im Gegensatz zu seiner früheren Naturlyrik, spiegelt er äußere Natur und innere Seelenlandschaft seltener, wie das lyrische Ich sich ohnehin zurückhält oder, wie im zentralen achten Gedicht Dämmrung senkte sich von oben, nun verhaltener ausspricht.
Zwischen Sommer und Herbst stehend, hat das Gedicht eine Sonderstellung in dem Zyklus: Es ist keiner Jahres- dafür aber einer Tageszeit zugeordnet, dem Abend. Rhythmisch beschreitet es neue Wege, indem es den jambischen Gedichten nun einen fallenden, vierhebigen Trochäus entgegenstellt, der bereits im ersten Vers die sich senkende Dämmerung durch eine Abwärtsbewegung nachzuzeichnen versucht. Mit dem indirekten Zauber dringt das Mondlicht, anders als das grelle Sonnenlicht, auf das Ich ein und „schleicht“ sich ins Herz, wo es sich zur sanften Kühle wandelt. Optischer Eindruck und haptische Wahrnehmung gehen so synästhetisch ineinander über, wie in einigen Gedichten Eichendorffs.