Martin Mosebach, Frankfurter Schriftsteller, in der Süddeutschen Zeitung vom 5. Jänner 2016:
„Was ist deutsch?“
Firn war sein Hirn, nach einem Krüglein bayerischen Leichtbiers, das nach ganz wenig geschmeckt hatte. Firn wie jener firne Wein von den Rheinhessen, nein, von der Mosel.
„Firn gewordener Riesling vom Rheingau oder der Mosel. Helles bayrisches Bier, das nach beinahe nichts schmeckt. Aber sollte ich Deutschland verlassen müssen, wäre es nur der Firnewein, der mir fehlen würde - dieser Geschmack ist unersetzlich.“
Hier ist ein Deutscher. Nur ein Deutscher wird unter all den finnischen, dänischen, zypriotischen Elitären sich mühen, ein unechter Inländer zu sein, während seinerseits jeder Finne, Zyper oder Norweger - sogar in Deutschland, trotz der Germanophilie, stets Skandinastiker bleibt - und in Tat und Wahrheit es doch auch muss.
„Mir ist die Neigung wohl vertraut, mich im fremden Land zu verlieren, die Freude, die fremden Gebräuche zu erahnen und mich ihnen anzubequemen, das Gedankenspiel, für immer in der fremden Welt zu versinken und nie mehr nach Haus zurückzukehren. Ist das das Deutsche an mir?“
Die Freude, mich fremden Gebräuchen anzubequemen. Bei meinen Geschwistern artete dieses bald zum Erwerb von „Confit de canard“ aus (in einer Dose).
Jetzt aber Fett bei die Fische:
„Kommunismus und Nationalsozialismus, Auto und Telefon, Penicillin und Computer, Fernsehen und Atombombe, industrielles Bauen und Autobahn, und schließlich sogar der industrielle Massenmord sind ohne federführende deutsche Mitwirkung nicht zu denken.“
Federführende deutsche Mitwirkung dann aber auch an Euro-Demontage und allen Griechenlandperspektivverlusten.
Dieser Schriftsteller Martin Moselbech war in den meisten Ländern. Er sah meist rasch, wer dort schon viel geleistet hatte. Immer waren es die Eliten, die das Allermeiste oder zumindest Wichtigste oder doch Wertvollste geleistet hatten und sich mithin auch mehr leisten konnten. Immer waren diese Eliten mit Martin M. zu einem freundschaftlichen Schwätzchen willig. Sie liebten den Martin, diesen redegewandten Deutsche. Sie, Eliten dieses Weltenraumes, lieben uns Deutsche doch immer. Aber Sie, Leser, haben Ihre Zweifel daran? Lesen Sie es hier nun mit Ihren eigenen Augen:
„Aber eines fällt auf: Wenn man im Ausland auf Germanophile trifft - in England, Frankreich, Russland-, dann gehören sie stets zur Elite ihres Volkes. Um Deutschland lieben zu können, muss man etwas leisten.“
Was auch deutsch ist: Wenn räucherische Sabbelköpfe mit honorigen Einnahmen bekränzelt werden. Bietet diesem Mosebach seine eigene Kolumne an! Dennoch schreiben sehr Elitäre das „bayerische Bier“ künftig weiterhin mit e nach y. (Feste Fyern byem Fyrnewyn.)
„Ist ein Deutscher vorstellbar, der in seiner Existenz nicht irgendwie und noch so schwach von der deutschen Disposition zum Bürgerkrieg gezeichnet ist?“
Remember, remember: Der deutsch-österreichische Bürgerkrieg in Nordschleswig und Ost-Pommelien. Der schweizerisch-hapspurkische Bürgerkrieg und dann noch der Sonderbundskrieg. Der elsass-lothringische Bruderzwist. Der Aufruhr um die Sklavenbefreiung. Jahre des weißen Terrors um Katharinenburg. Der spanische Bürgerkrieg. Nein. Der nicht, der war undeutsch und Stierblut floss.
„Wäre ein Deutscher, der von der deutschen Spaltungsgeschichte vollständig frei wäre, nicht ein Kunst-Deutscher, von der Geschichte gar nicht vorgesehen? Fehlte einem solchen Deutschen nicht etwas oder gewönne er durch diesen Mangel am Ende gar etwas? Würde an ihm ein „heiliger Deutscher“ sichtbar, Verkörperung eines ursprünglichen Deutschland als Gedanke Gottes, vor aller Spaltung?“
„Gewönne“ muss hier sein, nein, „gewänne“ wäre da inkorrekt. Wieso? Weil es entweder der Expressionismus oder auch Martin Luther damit sehr übertrieben hatten. Arg schön doch aber auch: „Gedanke Gottes vor aller Spaltung.“
„Das deutsche Laster aber ist der Expressionismus - bei Martin Luther beginnend, im Sturm und Drang die neue Zeit erreichend, in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts nicht endend: Wahrheitsaufdringlichkeit, Gefühlsprahlerei, Rotz und Wasser, Schmalz und Schleim.“
Blut und Hoden, Lug und Trug, Hans ans Plast, Häger & Korn, Schmitz und Wesseling. Jetzt ist ja schon weit nach 2010, Sturm und Drang sind 140 Jahre vorüber. Dennoch atmet Martin Luther erst jetzt auf, sieht er jenseits eines getönten ICE-Reform-Fensters jene Station Sturm und Drang entgleiten, an der nicht länger angehalten werden muss. Und dann ist Martin Mosel Lutherbach fast da. Sein Endhalt Expressionismus ist nicht weit.
„Die größte Glocke im Frankfurter Kaiserdom heißt „Gloriosa“; im kriegerischen Europa wurden viele Glocken nicht sehr alt - Glockenbronze wurde zu Kanonen gegossen, im Fall der „Gloriosa“ aber auch einmal umgekehrt; dreizehn Tonnen stammen von 1871 eroberten französischen Kanonen, fünf Tonnen konnte man aus dem Schutt des 1869 abgebrannten Doms herauskratzen.“
Und was aus dem jüdischen Zahngold dann wurde! Aber eine Glocke ist ja eher sanft. Aber doch auch tonnenstramm herausgekratzt.
„Sanft und ernst schafft sie einen Klangraum, der weit reicht. Ich liebe auch den Glockentumult der weniger spektakulären Geläute in ihrer Aufgeregtheit, aber die „Gloriosa“ ist etwas anderes - die akustische Entsprechung des Goldgrundes auf einem mittelalterlichen Bild.“
Eine Glocke schafft sich ihren originären Raum. Eine Glocke, die klingt ernst. So manche Glocke braucht noch was auf die Glocke. Die Gottheiten mancher Leute kommen in der finstersten Weihnachtsnacht zur Welt, die Mütter anderer verlassen Deutschland genau zum selben Zeitpunkt für immer. Beides wohl nicht ganz ohne Grund.
„Ich habe sie immer als Ankündigung und zugleich Gegenwart von etwas Außerordentlichem empfunden, Verwandlung der Luft und damit Erscheinung einer anderen Wirklichkeit, und das keineswegs erst seitdem meine Mutter nahe am Domturm in einer Weihnachtsnacht starb, während die „Gloriosa“ läutete.“
Klong. Klang. Gloriosa. Firmungswein.
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Anmerkung: Firnewein ist der mit dem Spagniolgeschmack. Zu einem ausgereiften Firnewein kann man einen herzhaften Ziegenkäse reichen. (Quelle: www.wein-auskunft.de.)
Kommentare
Sehr gerne gelesen.
HG Olaf