Claudia

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Während Claudia Fiedler ihre Reisetasche packte, hörte sie in ihrem Kopf deutlich den Glockenton, der jetzt zum Unterrichtsbeginn in der Schule erklingt, an der sie eine Stelle als Lehrerin angetreten hat und wo man sie jetzt vermissen wird. Man wird bald anrufen um den Grund für mein Nichterscheinen zu erfahren, denkt sie. Sie werden sich fragen, warum weder ich, noch jemand anderer angerufen hat, um mich zu entschuldigen. „Noch nicht eine Woche da und schon unentschuldigt gefehlt“, ging ihr durch den Kopf, als ihr Blick auf das Telefon fiel, das im Dock auf dem Sideboard steht. Sie nimmt es weg ohne zu wissen, wohin sie es stellen wollte, kam aber auf die Idee, es in der Küche in den Kühlschrank zu deponieren. Weil sie plötzlich Durst hat, trinkt sie einen Schluck Mineralwasser direkt aus der Flasche und stellt sie in den Kühlschrank zurück. Die Wohnung hatte sie vorher sorgfältig aufgeräumt. In der Spülmaschine kein Teller und kein Löffel. Der Müll ist entsorgt.
Etwas verunsichert, wie eine Fremde im eigenen Haus, setzt sie sich auf die Ledercouch im Wohnzimmer und lässt ihren Blick durch den kühl und modern möblierten Raum streifen. In der Glasfront zum Garten, sieht sie sich neben Leuten, die größtenteils Freunde ihres Verlobten, Stephan sind. Stephan, der nur für einige Tage aus Buenos Aires gekommen war, hatte allen viel zu erzählen. Er hat das Charisma, er ist der geborene Repräsentant, denkt sie. Wenn er das Wort ergreift oder irgendwo in einer Gesellschaft erscheint, findet er sofort den richtigen Einstieg und alle konzentrieren sich ab da nur noch auf ihn. „Dann habe ich sie in der Tasche!“ hat er erst kürzlich triumphierend gesagt, als es im Gespräch um seinen Verhandlungsstil mit den Südamerikanern ging.
Durch die Glasfront sieht sie sich selbst, wie sie mit dem Handy ein Foto von der fröhlichen Gruppe macht. Alle lachen über das ganze Gesicht, nur Stephans lachendes Gesicht ist nicht zu sehen, weil er ihr den Rücken zuwendet. Natürlich hat er gelacht, er hat mit Sicherheit sogar am lautesten von allen gelacht, versichert sie sich selbst im Geiste und holt ihr Handy aus der Handtasche, die neben ihr liegt, um die Fotos von der Grillparty zu betrachten.
Das Display meldet: Neue Nachricht von Verena: „Hi, dauert ein paar Minuten länger, komme zw. 9.15 und 9.30“.
Sie betrachtet die Szene, an die sie sich erinnert hatte, auf dem Bildschirm. Es war sein Rücken, der sie schon immer beeindruckt hat. Obwohl an seinem Rücken nichts besonderes war, war für sie an seinem Rücken immer etwas besonderes, das sie nicht genau beschreiben konnte. „Ich finde deinen Rücken sexy hat sie einmal zu ihm gesagt und er hat geantwortet, dass er seinen Rücken auch sexy findet, ihn aber nur selten sehe. Ihre Gedanken wanderten und das Bild von der Gartenparty verschmolz zu einer nächtlichen Partyszene, wo sie Stephan, der ihr in dem Augenblick auch den Rücken zuwendete, zum ersten mal begegnete. Aus diese Szene wiederum erschuf sich langsam ein Bild von Stephans Eltern auf dem sie auch nur von hinten zu sehen sind. Der Vater steht, in den Garten hinaus schauend mit dem Rücken zur Türe, als sie von Stephan zum ersten mal in das elterliche Wohnzimmer geführt wurde und die Mutter saß in einem Sessel, der in Richtung Garten ausgerichtet war und den Eintretenden ebenso den Rücken zuwendete.
Sie waren überrascht, nein, sie taten überrascht, sie heuchelten Überraschtheit, sagte sich Claudia. „Ach, ihr seid schon da ?… und was für ein hübsches, junges Fräulein du mitgebracht hast, mein Junge“ hörte sie Gerlindes freundlich gespielte Begrüßung in ihrem Kopf säuseln und Stephans Vater Theo bemerkte: „Stephan hat uns schon viel von ihnen erzählt und vorgeschwärmt und er hat, wie ich jetzt selbst sehen kann, nicht übertrieben, meine liebe Claudia, so heißen sie doch, nicht wahr?
Alles ging so schnell. Ich wurde akzeptiert, ich wurde von der Familie wie selbstverständlich als künftige Schwiegertochter aufgenommen, denkt Claudia. Im Anschluss an meine Examen hat mir Theo gleich eine Stelle als Assistentin in seiner Firma angeboten, sozusagen als Belohnung für meine Strebsamkeit und als Vorbereitung auf die Zeit als Gattin des Juniorchefs. War ich zu naiv? Hätte ich an so viel Glück zweifeln sollen? Nein. Hatte ich eine Chance? Nein.
Die Messe in Genf taucht in ihrer Vorstellung auf. Nach dem gemeinsamen Abendessen in ihrem Hotel sieht sie sich mit Theo, wie sie die positiv verlaufene Produktpräsentation, mit einem Gläschen Champagner feiern. Plötzlich fragte er sie, ob sie die Güte hätte mit ihm noch Unterlagen für den morgigen Vortrag zusammen zu stellen, damit sie die Arbeit nicht hektisch in aller Frühe erledigen müssten. Wie weltmännisch er sich gegeben hat, denkt Claudia, als er sagte, dass er in einem geschichtsträchtigen Zimmer residiere, das sie unbedingt sehen müsse, weil damals, - da warst du gerade mal 7 Jahre alt - , sagte er, ein bekannter deutscher Ministerpräsident tot in der Badewanne des Zimmers 317 aufgefunden wurde und man heute noch darüber rätselt, ob es Selbstmord oder Mord war. Natürlich hat ein renommiertes Haus wie dieses, das Badezimmer inzwischen komplett erneuert und du brauchst dich nicht zu gruseln, zumal du ja nicht zum Baden sondern zum Arbeiten kommst, fügte er auch noch, mit schelmischem, nein, mit einem fratzenhaft verschlagenem Grinsen hinzu.
So erinnere ich sein wahres Gesicht und nicht das Gesicht von vorher, wo ich in ihm meinen wohlwollenden Chef und künftigen Schwiegervater gesehen habe. Was für eine lächerliche Figur. Die tiefen Kratzer in seinem wahren Gesicht hat er seiner Frau gegenüber mit ungeschicktem Rasieren erklärt. Sie fragte aber nur süffisant zurück, ob denn in dem Hotel keine professionelle Barbierin Zeit gehabt hätte?
Ich bin mir sicher, dass sie sich schon vor Genf einig waren. Sie waren sich schon damals, bevor sie mich kannten, als sie mir und Stephan den Rücken zeigten, einig, weil ich nicht in ihren Plan gepasst habe. Auch ihr Sohn hat, mit mir als Freundin, nicht in ihren Plan gepasst, sonst hätten sie ihn nicht gleich nach meiner Einstellung nach Argentinien geschickt um die dortige Repräsentanz, zu übernehmen.
Nach allem was vorgefallen ist und wie sich unser Verhältnis eingetrübt hatte, wunderte mich nicht die Tatsache, ja, nicht einmal die Schnelligkeit, mit der mir innerhalb einer Woche bekannt gegeben wurde, dass Theos Chorbruder in Brüssel, der dort einen einflussreichen Posten bei der EU bekleidet, ihn gebeten habe, seine Tochter, eine angehende Betriebswirtin für ein Praktikum anzustellen. Natürlich, sagte Gerlinde, können wir ihr nicht irgend eine Stelle anbieten, sondern nur eine, bei der sie auch Einblick in das Geschäftsleben erhält. Sie macht jetzt erst mal Assistenz bei Theo und du kannst dich so lange mit allgemeiner Organisation am Empfang beschäftigen, ließ sie mich lapidar wissen. Die Praktikantin war gutaussehend und hatte, darüber war ich mir schnell im Klaren, noch nie einen Hörsaal von innen gesehen.
Auch Stephan muss in das infame Spiel eingeweiht gewesen sein, denn er hat sich nicht im Geringsten über das Verhalten seines Vaters, mir gegenüber, entrüstet oder etwas zu dieser seltsamen Praktikantin gesagt. Er meinte nur: Es ist doch nichts passiert, mein Alter ist halt in seinem zweiten Frühling und entschuldigt hat er sich ja auch!
Ich frage mich: wie muss ein Mensch geartet sein, damit er es schafft in diesem Zusammenhang eine solche Entschuldigung zu formulieren? Im Parkhaus am Flughafen, beim Gepäckausgeladen sagte er mir, dass ich ihn nicht begleiten müsse, weil er vor dem Rückflug nach Argentinien noch wichtige Telefonate zu führen habe und danach nicht genügend Zeit hätte um mit mir weiter über Banalitäten zu diskutieren. Was für eine Abfuhr, habe ich mir gedacht. Wie schafft er es, mich so kaltschnäuzig abzuservieren? Mir war klar, dass zwischen uns eine Verfremdung eingetreten ist, die unserem Verhältnis keine Zukunft bescheren kann. Sein Flug nach Buenos Aires entpuppte sich ein paar Tage später als glatte Lüge, wie ich zufällig in einer Fernsehreportage über die diesjährige Kitzbüheler Alpenralley sehen konnte. In der Reportage waren als Sieger in der Oldtimer Klasse, Stephan Berger und Helene von Hochegg mit ihrem Porsche 356 aus dem Jahr 1962 zu sehen. Stephan sagte mir am Telefon eiskalt, dass die Tochter des deutschen Botschafters in Argentinien eine für ihn wertvollere Verbindung sei, als ich ihm je bieten könne. Theo und Gerlinde, die ich der Falschheit und Kumpanei mit ihrem Herrn Sohn bezichtigt habe, fragten mich hämisch, wie ich überhaupt auf die absurde Idee käme, in das Haus Berger einheiraten zu können. Während Theo sich kopfschüttelnd abwendete und und so tat, als ob er Wichtiges zu tun hätte, sagte Gerlinde, dass es eine gute Gelegenheit wäre um gleich heute Klartext miteinander zu reden.
Morgen, hätten wir dich sowieso zur Rede stellen müssen, sagte sie, weil uns aufgefallen ist, dass du Firmengeld veruntreut hast und wir keine Möglichkeit für eine weitere Zusammenarbeit sehen.
Im Kündigungsschreiben haben sie mir in ihrer schamlosen Verkommenheit die Verantwortung für erhebliche Fehlbeträge in der Tageskasse angelastet. Es waren ganze 14 Cent, die ich einem Boten aus Mangel an Kleingeld zu viel gezahlt habe, denkt Claudia und dass sie es ihnen gestern Abend persönlich zurück gezahlt hat.
Da summt die Glocke an ihrer Haustüre und als sie öffnet steht nicht die erwartete Verena, bei der sie für die nächste Zeit einziehen will da, sondern die Polizei, von der sie sofort überwältigt und in Handschellen gelegt wird. Man erklärt ihr, dass sie verhaftet sei, weil sie des Mordes an Theo und Gerlinde Berger beschuldigt wird, dass sie das Recht habe die Aussage zu verweigern, sich nicht selbst belasten müsse und einen Rechtsbeistand herbeiziehen könne.

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26. Okt 2015

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