Klack, machte das Metronom. Manfred fuhr hoch. „Schon Silvester?“, fragte er sich ungläubig. Tatsächlich. Wie jedes Jahr läuteten die Glocken der Kirche zum Mitternachtsgottesdienst, wie jedes Jahr zischten die Feuerwerkskörper am trüben Fenster seiner Dachwohnung vorbei und wie jedes Jahr war er wieder am Schreibtisch eingeschlafen – obwohl er sich fest vorgenommen hatte, bis allerspätestens zum Jahreswechsel die Entscheidung zu treffen. Schwerfällig erhob er sich und ging in die Küche. Der Weg zur Außentoilette war ihm zu kalt und zu weit.
Er ließ den Wasserhahn lange laufen, um gründlich nachzuspülen.
Nachdem er sich mit kaltem Wasser Unterarme und Gesicht gekühlt hatte, ergriff ihn eine ungewohnte Neugier. Er nahm das Handtuch vom Haken und wischte über den Spiegel, der über dem Spülbecken hing. Doch der Spiegel zeigte weiterhin nichts als eine grau-bräunliche Fläche. Die Feuchtigkeit des Raumes hatte sich mit dem Staub der Jahre zu einem hartnäckigen Film vereint. Manfred drehte den Wasserhahn erneut auf und hielt einen Zipfel des Handtuchs darunter. Mit dem nassen Gewebe schaffte er es, dem Spiegel nach und nach seine ursprüngliche Funktion zurückzugeben. Er hatte gerade mal die untere Hälfte gereinigt, als er zurückschreckte. Zögernd ging er wieder hinan und wischte weiter. Über dem langen, grauen Bart erschien das Gesicht eines Greises mit grauem verfilztem Haar. „Gütiger Gott“, stieß Manfred hervor. Als Doro ihm zum ersten Mal die Frage gestellt hatte, war er zwar kein ganz junger Mann mehr, doch seine Haare waren schwarz und seine Augen klar gewesen. Zittrig hängte er das Handtuch an seinen Platz. So schnell es seine schweren Beine zuließen, kehrte er an seinen Schreibtisch zurück, griff nach dem Kalenderbuch, das auf der rechten hinteren Ecke lag, und blies den Staub darauf in das schummrige Licht der Stehlampe. Laut las er: „Zweitausendeinundzwanzig.“
Bevor er, wie an jedem 1. Januar, auf die bereitstehende Leiter stieg, ließ er die Seiten durch seine Finger surren. Kein einziger Eintrag. Was hätte er auch notieren sollen? Ein Tag war wie der andere: Aufstehen, am Schreibtisch sitzen, zur Mittagszeit kam das Essen von der Fürsorge und irgendwann am Nachmittag der tägliche Anruf von Doro. Vor Jahren hatte das noch anders ausgesehen. Da war er wenigstens noch fünfmal die Woche ins Büro gegangen, die Buchhaltung für die Konservenfabrik zu machen. Zu dieser Zeit hatte er sich auch noch mit Doro getroffen; und nicht nur telefoniert. Wie lange das wohl schon her war, fragte er sich oben auf der Leiter angekommen, und legte das Kalenderbuch auf den Stapel mit den anderen. Er trat eine Stufe hinunter. Nein, da brauchte er noch gar nicht zu schauen. Schon an den Buchrücken erkannte er, dass die Kalender kaum, wenn nicht gar nicht, aufgeblättert worden waren. Noch eine Stufe hinunter. Hier könnte er es versuchen. Vorsichtig, mit dem linken Arm die Bücher darauf stützend, zog er das Jahr 2002 heraus. Doch als er es aufblätterte, schauderte ihm. Auch das war völlig unbeschrieben. Ein Buch nach dem anderen trug er nun den Stapel ab.
Das Jahr 1993 sah vielversprechend aus. Der Rücken war geknickt. Fast ängstlich schlug er das Buch auf. Viele Seiten waren beschrieben. Er las: Anruf von Doro. Fast täglich: Anruf von Doro. Ab März wurden die Einträge seltener. Im letzten halben Jahr nur noch einmal: Anruf von Doro – am 27. August. Schon damals hatte er also angefangen, die täglichen Anrufe von Doro nicht mehr alle aufzuschreiben. Am 31. Dezember dann der Eintrag: bis Mitternacht endgültig entscheiden. Aha, das hatte er sich immerhin noch notiert.
Er nahm weitere Bücher herunter. 1981. Jeden Tag: Doro. Dazu kleine Bemerkungen, wie: ihre braunen Augen machen mich weich; ihr Hintern macht mich scharf; die Nacht zusammen verbracht – es war der Wahnsinn; im Wald zusammen geschlafen – es war schön. Im September ein zusätzlicher Eintrag: Abmahnung bekommen, wegen Vernachlässigung der Arbeit. Im November: Kündigung erhalten, wegen unentschuldigtem Fernbleiben von der Arbeit. Er erinnerte sich jetzt genau. Sie hatten sich eine fadenscheinige Begründung ausgedacht, um ihm zu kündigen; sie wollten sich nicht eingestehen, dass er es war, der dem Treiben im Betrieb nicht mehr zuschauen wollte. Er blätterte weiter zum 31. Dezember: Bis Mitternacht Entscheidung treffen und Doro anrufen.
Sorgsam legte Manfred die Bücher chronologisch auf den Stapel zurück. Doro wartete wirklich schon lange, dachte er. Höchste Zeit, sich wieder an die Arbeit zu machen. Trotzdem stieg er behutsam die Leiter hinunter. Nicht dass er vor lauter Eile noch stürzen würde; dann könnte er gar keine Entscheidung mehr treffen, und Doro würde umsonst anrufen.
In der Küche schenkte er sich einen Kaffee aus der Thermoskanne ein. So viele Jahre waren ins Land gegangen, dachte er, und eins war wie das andere gewesen. Der Frühling bescherte dem Baum in der Straße Knospen, im Sommer blühte er, der Herbst brachte seine Blätter zum Welken. So lange er sich erinnern konnte, war es so gewesen. Der Frühling löste den Winter, der Sommer den Frühling, der Herbst den Sommer, der Winter den Herbst ab. Auch an diesem Tag würde irgendwann die Sonne wieder aufgehen, ob hinter Wolken oder nicht, um einen Tag einzuleiten, der am Abend nichts Besseres zu tun hatte, als in quälender Dunkelheit zu enden.
Mit diesem Gedanken setzte er sich an seinen Schreibtisch, trank einen aufmunternden Schluck Kaffee und nahm sich den dicken Ordner mit der Aufschrift: „Das Für und das Wider Nr. 17“ vor. Er schlug gleich die letzte Seite auf – er wollte nicht noch mehr Zeit mit der Vergangenheit verlieren. Der letzte Eintrag in der Spalte ‚Für’ war: Sie hat Brüste, die aussehen wie Äpfel, aber nicht wie die gängigen Äpfel im Supermarkt, sondern eher wie die, die ich als Kind mal in der Ferienzeit auf einem Bauernhof gegessen habe, die nicht ganz so prall und gleichmäßig waren, dafür aber so süß geschmeckt haben.
Und gleich daneben las er unter ‚Wider’: Sie meckert ständig, ich sei eine labile Person, sie könne mich nicht mal eine Persönlichkeit nennen.
Er nahm die Kappe vom Füller und schrieb in die Für-Spalte: Sie ist nicht nachtragend – obwohl sie nun schon seit einigen Jahren auf meine Entscheidung, ob ich eine feste Beziehung mit ihr eingehen möchte oder nicht, warten muss, ruft sie mich täglich an.
Manfred fiel ein, dass er noch nicht den neuen Kalender auf dem Schreibtisch parat gelegt hatte. Er griff in die oberste Schublade und holte ihn heraus. 2022. Zum ersten Mal nach so vielen Jahren wollte er am Abend wieder etwas eintragen. Er schlug gleich den 1. Januar auf. So legte er den Kalender an die Seite. Ab heute würde er die täglichen Anrufe Doros wieder festhalten. Sie war ihm schließlich wichtig. Wie hatte er nur so nachlässig sein können. Und heute würde er ihr endlich seine Entscheidung mitteilen. Doch, dachte er, überstürzen sollte er auch nichts. Er blätterte im Ordner zurück. Jede Bilanz, die er jeweils am Ende einer Seite gezogen hatte, war ausgeglichen. Gleich viele Punkte in den Für- und den Widerspalten. Er entschloss sich, auf ihren Anruf zu warten, um sich spontan zu entscheiden. Heute würde er es tun. Er würde einfach ‚Ja’ oder ‚Nein’ sagen. Und vom Gefühl her tendierte er zu ‚Ja’. Sie würde sich bestimmt freuen. Entspannt lehnte er sich zurück und wartete. Um die Mittagszeit nahm er an der Tür sein Mittagessen entgegen und sagte: „Nein, ich möchte Sie noch immer nicht in meine Wohnung lassen, ich komme sehr gut alleine zurecht.“
Nach dem Essen legte sich Manfred erschöpft in sein Bett. Auf der Stelle schlief er ein.
Am Abend – es war längst dunkel, als er erwachte – machte er sich erneut an die Arbeit. Er schlug den Ordner auf und schrieb in die Wider-Spalte: Ihre Brüste sind nicht so prall wie die, die auf Titelbildern der Zeitschriften im Supermarkt abgebildet sind.
Da traf sein Blick das aufgeschlagene Kalenderbuch. Er klappte es zu und legte es auf die rechte hintere Ecke des Schreibtisches.
Neujahrsnovelle

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