Die akademische Palme - Page 3

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Frau Rödlich sprach mit ihm kein Wort mehr. Stets, wenn er ihr Büro betrat, ging sie auf den Flur oder auf die Toilette. Sie vermied jeglichen persönlichen Kontakt. Einzig seine Stimme per Diktaphon bildete eine Brücke. Und diese Chance nutzte Dr. Kneidel, um ihr seine scherzhaften Grüße zu übermitteln.
>Guten Morgen gnädige Frau. Wünsche Ihnen einen fehlerfreien Tag. - Pause - Lachen - Und nun zur Sache.<
Es folgte das Diktat.

Und abermals betrat Dr. Kneidel an einem Frühlingsmorgen mit breitem Lächeln sein Büro. Gerötete Wangen, glänzende Augen, das Resultat wundervoller Sonnenküsse. Weißgoldenes Licht flutete durch die großen Fenster und umschmeichelte die Blumentöpfe, tauchte den Schreibtisch, die Regale und alle übrigen Gegenstände in eine hohe Frequenz. Dr. Kneidel glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Er kniff sie zusammen. Blickte gegen das grelle Licht zu den Silhouetten seiner Palmen. Dieses Bild wird er niemals vergessen.
Sechs abgesägte Stämme ragten aus den Blumentöpfen. Blattunter. Die Palmenkronen waren eingegraben und wurden mit Eisenstangen stabilisiert. Das Blut der Stümpfe benetzte beinahe die Decke. Und gleißend umflirrte das Sonnenlicht die sterbenden Freunde.
Plötzlich sah Dr. Kneidel hinter jeder Pflanze einen hellroten Schatten. Hatte jemals zuvor ein Mensch die Seele einer Pflanze erblickt? Dr. Kneidel war wie elektrisiert. Einerseits ließ die Faszination dieser Erscheinung eine nie gekannte Dankbarkeit in ihm wachsen, andererseits zerrissen Trauer und Wut ihm die Brust. Er zitterte. Zuerst ging ein Vibrieren durch seine Beine, griff über zur Wirbelsäule und brachte den Mann beinahe aus dem Stand. Er zitterte so sehr, dass die Arme an den Seiten schlackerten wie vom Sturm bewegte Zweige. Diesen starken Ambivalenzen war er nicht gewachsen. Er sah genau wie Anton, der blutrote Anton ihm zuwinkte. Anton wuchsen plötzlich Arme und Beine. Dann entwickelte sich das Gesicht eines Mannes. Bert, Christoph, Dorian, Ernst und Felix mutierten ebenfalls und streckten ihm ihre blutroten Arme entgegen. Und wieder zerriss es Dr. Kneidels Herz. Er blickte in sechs vertraute Gesichter. Sie hatten Merkmale seines Gesichtes mit unterschiedlicher Ausprägung. Bei Anton stachen die hängenden Oberlider der Augen hervor, Bert hatte Tränensäcke, Christoph eine steile Falte über der Nasenwurzel, Dorian das breite, aufgeschwemmte Gesicht, Ernst hängende Mundwinkel und Felix die charakteristischen Hamsterbacken. In allen erkannte sich der Vater und Freund seiner Pflanzen wieder. Wer hätte gedacht, dass die Verbindung zwischen Mensch und Pflanze so intensiv sein kann, wie die zwischen Herr und Hund? Eine totale Assimilation. Dr. Kneidel hatte es geahnt. Aus diesem Grund aß er seit langem ausschließlich Pflanzenfrüchte und Schnittsalat, denn er wollte nicht vom Tod seiner geliebten Pflanzen leben müssen. So war sein Körper angereichert mit Obst jeglicher Art. Die Skrupel beim Fleischgenuss allerdings fehlten, denn er mochte keine Tiere, da sie nach seiner Ansicht die größten Feinde der Pflanzen darstellten.
Dr. Kneidel war ein engagierter Forscher. So bemerkte er im Tod seiner Palmen ein außergewöhnliches Geschenk an ihn. Er hatte die Chance, die Seelen der sterbenden Palmen zu erblicken und somit einen Beweis für deren Existenz zu erlangen. Und doch wollte er mit aller Kraft die Seelen seiner Freunde im Hier und Jetzt, in seiner Nähe und im Körper seiner Palmen erhalten.
Er schloss sich in seinem Büro ein. Dann zog er die Palmenkronen aus der Erde. Er stellte sie zusammen in einen Eimer und wässerte die Stämme. Dann wusch er Blatt für Blatt. Er wusste genau, mit wem er während des Waschvorgangs sprach. Es stand hinter jedem Stamm die rote Pflanzenseele.
Er war auf eine sehr ungewöhnliche Weise glücklich. Auf eine zerrissene und bedrückte Art. Da war die Chance, einen Einblick zu nehmen in die Welt dahinter, sozusagen in die des allerhöchsten Chefs. Einmalig die Nähe zu seinen Freunden, einmalig die Nähe zum großen Boss.
Um Dr. Kneidel war es still geworden. Niemand hörte etwas an diesem Tag von ihm. Niemand sah ihn über den Flur stolzieren. Niemand animierte Frau Rödlich zum verstärkten Tablettenkonsum. Es war ein beruhigter Tag. Und doch flirrte ein Unbehagen durch das Zentrum von Wissenschaft und Forschung.
Um 17°° Uhr schaltete Frau Rödlich ihren Computer ab. Sie hatte sich über den Tag nicht von ihrem Schreibtisch bewegt. Selbst Blasendruck und Schweißausbrüchen hielt sie stand. Hin und wieder schaute ein Kollege in ihr Büro. Jedesmal zuckte sie zusammen und wischte sich die Stirn. Und endlich konnte sie der Stille entfliehen. Feierabend.
Hätte sie ihrer Neugier nachgegeben und einen Blick durchs Kneidel’sche Schlüsselloch werfen können, dann hätte Gewissheit ihre Nerven entlastet. Dann hätte sie ihren lang gehegten Traum von seiner Niederlage, von seinem Schmerz, von seiner absoluten Frustration verwirklicht sehen können. So blieb nur der Heimweg, die Phantasie, die Unsicherheit und zuletzt die Furcht vor dem kommenden Tag. Ach, hätte sie nur...
Mit gesträubten Nackenhaaren schloss sie ihr Büro hinter sich und hastete in Richtung Treppe.
>Haben Sie Dr. Kneidel heute schon gesehen?<
Dr. Kehler kam ihr auf der Treppe entgegen.
>Heute nicht einmal. Kann ich übrigens im Kalender ankreuzen. Kommt nicht oft vor. Allenfalls im Urlaub.<
Frau Rödlich federte lässig an ihm vorbei und hinunter zum Ausgang. Sie wirkte plötzlich so jung und unternehmungslustig. Dr. Kehler schaute hinter ihr her. Er schritt zum Kneidel’schen Büro. Pochte mit gespitztem Mittelfinger heftig gegen die Türe. Es blieb still.
Langsam öffnete er den Zugang zur Denkerklause einen winzigen Spalt. Sofort zog er sich zurück und ließ die Türe angelehnt. Auf Zehenspitzen tastete er sich zur Treppe. Hastete nun in Richtung Ausgang. Die Sonne stand noch lange am Frühlingsfirmament. Und güldene Lichtreflexe tanzten durch Büros und Labors.
Dr. Kneidel hatte seine Freunde lieb. Alle, ausnahmslos. Anton, Bert, Christoph, Dorian, Ernst und Felix, seine besten Freunde, alle hielt er nun im Arm. Er saß auf dem Boden. Umklammerte mit den Beinen den Wassereimer. Umschlang mit den Armen die Pflanzenstämme. Die Blattkronen überragten wie gigantisches Haar seinen Kopf. Er sang Vokale in alphabetischer Reihenfolge. Er hatte mit Verlöschen des Tageslichts damit begonnen. Er gab all seine Kraft, um die Dunkelheit der Nacht mit seiner Stimme zu beleben. Schwingungen des Lichtes durch Schwingungen der Stimme zu ersetzen. Heilige und heilsame Vokale sollten seine Freunde über die Finsternis der kommenden Stunden tragen. Alles wollte er geben. Alles. Beim A und beim O presste er die Stämme besonders fest an sein Herz. Seine Kraft sollte in die Zellen der geliebten Organismen fließen, sollte sie am Leben erhalten, sollte ihnen die Chance geben, neue Wurzeln zu bilden. Er hatte für einen kurzen Moment ihre Seelen erblickt. Dr. Kneidels Trip ins Anderswo gab ihm die Zuversicht, mit seiner Macht könne er Wunder vollbringen.
Und so begann sein akademischer Marathon.
In dieser einen Nacht saß er regungslos und sang seine Vokale. Nur zum Urinieren verließ er sein Büro. Der nächste Tag verlief im gleichen Ablauf.
Und so folgten die Tage des Monats April. Das Wetter war wechselhaft und fügte sich der alten Bauernregel in der es heißt - April macht was er will.
Und Dr. Kneidel hatte die Legitimation und somit Chance, in seinem Büro Tag und Nacht zu verharren. Nachts vernahm man seine Gesänge. Tags beugte er sich über seine Notizen. Seine Mitarbeiter mieden das Büro. Nur ab und zu lünkerten sie durchs Schlüsselloch. Niemand kam auf die Idee, ihrem Kollegen könne irgendetwas fehlen. Frau Rödlich war nach langer Zeit wieder einmal glücklich. Ihre nächtliche Palmenaktion war ein Geheimnis und erwies sich als voller Erfolg. Sie war damals über sich hinausgewachsen, als sie Herrn Metz bat, ihr bei der Maßnahme zu helfen. Er brachte eine Elektrosäge mit. Es dauerte nur wenige Minuten. Dann gruben sie die Wurzeln aus und ab in den Müll damit. Danach buddelten sie die Palmenkronen ein. Zurück blieb das, was Dr. Kneidel in eine milde Starre versetzte. Er hatte nicht einmal nachgeforscht, wer ihm das hat antun können. Er war nicht einmal vor Wut und Sarkasmus explodiert.
Frau Rödlich war glücklich. Herr Metz war ihr nahegekommen. Sie hatten eine euphorische Nacht im Kneidel’schen Büro verbracht.
Und als im Monat Mai das eine und andere Gewächs ausschlug, da war etwas Seltsames geschehen. Und Wunder gibt es immer wieder und bietet vielen Menschen Labsal und Trost.
Pflanzenfreunde - Grüne, Rote, Schwarze, Gelbe - aller Couleur, fühlten eine außergewöhnliche Bestätigung ihrer Liebe. So war etwas geschehen, das ein Umdenken nötig machte.
Als Dr. Kehler am 1. Mai die Bürotüre des Pflanzenvaters öffnete, da sah er vor dem Wassereimer eine wundersame Erscheinung. Es schlang sich eine mächtige Wurzel um den Eimer, darauf ein grünbrauner Stamm, dessen Krone sich zu sechs wurzelnden Palmenstämmen neigte. Das Gewächs hatte die Form eines hockenden Mannes. Und im Blattwerk erkannte Dr. Kehler die Gesichtszüge von Dr. Kneidel. In jedem Blatt, als seien es Hologramme. Mehrstimmige Vokalgesänge durchzogen den Raum. Sieben Palmenkronen bewegten sich leicht, als würden sie tanzen.
Faszination und Entsetzen ließen Dr. Kehler erstarren. Frau Rödlich holte Herrn Metz. Das Lehrmädchen wurde dem Ort ferngehalten, um ihm den Schock zu ersparen. Doch die Versuchung, die Presse in Kenntnis zu setzen, war größer als das Entsetzen um den Zustand Dr. Kneidels. Diese Verschmelzung mit dem Pflanzenreich, diese Vermählung mit den Freunden war einzigartig. Diese Metamorphose war nicht rückbildbar. Trotz aller Versuche war Dr. Kneidel für die Menschheit verloren. Er war zu einem Menschengewächs geworden. Er war ein Sinnbild für absolute Pflanzenliebe.
So wurde diese außergewöhnliche Pflanze in die Eingangshalle des Instituts gestellt. Dort war viel Licht und Luft. Und dort konnte jeder Besucher - und deren waren viele - mit einem Schaudern vorübergehen. Hier war ein Pflanzenforscher, ein Pflanzenfreund und Pflanzenvater unsterblich geworden. Dr. Kneidel befand sich im Himmel seiner über alles geliebten Pflanzen. Frau Rödlich indessen im Himmel auf Erden.
Die Pflanze, bestehend aus sechs Stämmen, sieben Kronen und einer Wurzel, würde auch das kommende Jahrtausend überstehen, später, viel später als Versteinerung. Dank dieser akademischen Palme gelangte das Institut zu Weltruhm und wurde dementsprechend honoriert.

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Kommentare

28. Jan 2016

Die Siegespalme kriegt der Text -
Der blühend aus sich selber wächst!

LG Axel

29. Jan 2016

Danke, lieber Axel. Dein Kommentar - originell, wie stets - macht froh und motiviert.
LG Monika

30. Jan 2016

WOW, was für ein faszinierender Text.
Und ob du:s glaubst oder nicht:
Es gibt sie schon, die Pflanze mit menschlicher DNA. Ein Forscher hat einer Geranie seine DNA - wie soll man sagen - eingepflanzt? Er hat diesem Gewächs auch einen speziellen Namen gegeben, aber da habe ich leider nicht genug aufgepasst, mir den zu merken. Die Pflanze sah jedenfalls wundervoll aus!

30. Jan 2016

Oh! Dein Kommentar, liebe noe, animiert mich zu einer Recherche. Toll. Und DANKE!
LG Monika

30. Jan 2016

In der Mediathek von zdf-info vom 28.01.2016 kannst du drei äußerst interessante Videos sehen (jedenfalls heute, am 30.01.2016, ist das noch so), deren Inhalt zum Teil auch in deinem Text wiederkommt (Jasminduft z. B.). Im dritten Video bei Min. 38,30 beginnt das, was ich oben beschrieben habe - nur, dass der "Wissenschaftler" ein Künstler ist und die "Geranie" eine Petunie (gefällt mir sowieso besser!). Der US-Künstler heißt Eduardo Kac und die "neue Lebensform" wird von ihm "Plantimal" genannt, weil in der Pflanze pflanzliches und tierisches (Säugetier Mensch) Genmaterial vereint ist:

http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/live/1822586/ZDFinfo-im-Livestream#/suche/Die%20geheime%20Welt%20der%20Pflanzen

Viel erhellendes (?) Vergnügen,
noé

30. Jan 2016

Für die Info hab Dank, liebe noe. Das macht schon fassungslos. Ein erhellender Wahnsinn. Edunie, das Mischwesen aus Petunie und Eduardo Kac. Mal schau'n wie es mit uns weiter geht...
LG Monika

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