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Dr. Rüdger Kneidel stand einige Minuten vor seinen ausladenden Zimmerpalmen. Er hatte seine Hände wie zu einem Gebet ineinandergelegt. Seine Augen ruhten auf dem vitalen Grün der saftigen langgezogenen Blätter. Nun blickte er kurz aus dem großen Fenster seines Büros zum kahlen Geäst der winterlichen Bäume. Ein Sturm fegte über die Parkanlage, die das kleine Institut einbettete. Die Bäume schlugen mit ihren Ästen gegeneinander, griffen über von Garten zu Garten und ließen sich, angefeuert vom Wind, nicht von eingrenzenden Mauern und Zäunen abhalten. Die kastenförmige Villa der Forschungsstätte schmiegte sich unauffällig in das vornehme Viertel im Süden der Stadt. Dr. Kneidel blickte prüfend um sich. Er war alleine. Er berührte zart die Blätter der Pflanzen und flüsterte:
>Hallo Anton, hallo Bert, Christoph, Dorian, Ernst und Felix. Wie geht es euch? Ihr Pflanzengeister, schenkt mir einen guten Tag.<
Dann durchmaß er den Raum mit sieben Schritten und gelangte zur Türe und hinaus auf den Flur. Dr. Kneidel lief betont aufrecht. Es machte ihm Spaß, den Reiz seines athletischen Körpers durch Gang und Gestik zu verstärken. Er war fünfzig. Sein breites Gesicht, leicht verquollen durch reichlichen Biergenuss, wirkte etwas traurig durch hängende Augenlider, etwas bösartig durch schräg abfallende Mundwinkel. Dr. Kneidel erreichte das Zimmer der Büromanagerin. Seit kurzem hatte Frau Rödlich, seine Sekretärin, darauf bestanden, ihre Berufsbezeichnung zu ändern und sich schlicht Büromanagerin zu nennen. Dr. Kneidel zögerte einen Moment, stieß dann die angelehnte Türe auf.
>Na, Frau Rödlich, wünsche guten Appetit.<
Er wusste, dass er mit kleinen Aufmerksamkeiten ihren Adrenalinspiegel beeinflussen konnte. Frau Rödlich ließ ihren angebissenen Apfel in der Schublade verschwinden.
>Danke<, knödelte sie. Das Apfelstück war anscheinend unter ihrem Gaumen hängengeblieben. Sie bewegte flink ihre Finger auf dem Keyboard ihres PC’s. Die roten Locken zitterten leicht am Nackenansatz. Die karottenrot geschminkten Lippen verzogen sich zu einem Halbrund nach unten.
>Oh, will Sie nicht bei Ihrer Arbeit stören<, flüsterte Dr. Kneidel. Er lief auf Zehenspitzen zu ihrem Fenster. Betrachtete mit einem Kopfschütteln die verkümmerte Dieffenbachia.
>Gefällt Ihnen etwas nicht, Herr Dr. Kneidel?< flötete Frau Rödlich. Sie wendete ruckartig den Kopf in Richtung Fenster. Ihre Locken umtanzten den Nacken.
>Wenn ich Ihre Pflanze sehe, fällt mir nichts mehr ein.<
Dr. Kneidel lief zur Türe und streifte mit dem Arm ihren Hinterkopf. Frau Rödlich zuckte zusammen. Dann zupfte sie ihre Haare in Form.
>Huch. Wollte Ihre Frisur nicht ruinieren<, kicherte Dr. Kneidel und verließ den Raum. Er hörte, wie Frau Rödlich ihren Schrank öffnete. Dann lief für einen kurzen Moment der Wasserhahn, dann klirrte ein Glas beim Aufsetzen. Dr. Kneidel wusste, dass der Griff zur Tablette mit anschließendem Schluck Wasser bei Frau Rödlich in direkter Verbindung zu seiner Person stand. Und dass ihr Umgang mit Arzneimitteln schon Suchtcharakter besaß.
>I am a Champion<, trällerte er leise vor sich hin. Mit ausholenden Schritten nahm er den Flur und verließ über die Treppe die erste Etage. In Parterre lagen die Labors unter den Büroräumen. Mit der Bemerkung >Frau Rödlichs Tanz auf dem Vulkan< traf er empfindlich ihren Nerv und sorgte verstärkt für ihren Tablettenkonsum.
Er lief zur zweiten Türe des lichtdurchfluteten Flurs, auf dessen langgestreckten Fensterbänken sich kleine Ableger jener Zimmerpalmen ausbreiteten. Auch hier vergaß er niemals im Vorübergehen zu jedem Pflanzenbaby einen kurzen Gruß zu schicken. Er verschwand die nächsten Stunden im Labor.
Es war soweit. Der 25. Januar brachte frühlinghafte Temperaturen von 12 bis 14°C mit zelldurchflutendem Sonnenschein. Ein fabelhaftes Wetter für einen Gedenktag, denn vor genau fünf Jahren hatte Dr. Kneidel in seinem Büro den Palmenhain errichtet. Dr. Kneidel trug einen mit bunten Tüllfliegen vollgestopften Baumwollbeutel. Wie zart die Pflänzchen doch damals waren. Niemand hatte mit diesem explosiven Wachstum gerechnet.
>Man muss die Pflanzen lieben<, sagte Dr. Kneidel bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Frau Rödlichs stereotype Antwort: >Sonst noch wen, Herr Dr. Kneidel?<
Dr. Kneidel legte den Beutel auf seinen Schreibtisch. Aus den Augenwinkeln hatte er im Vorübergehen bemerkt, dass Frau Rödlichs Bürotüre angelehnt war. Er hörte das Tackern der Tastatur, das Piepsen des Computers. Er wusste, dieses Piepsen bedeutete wieder einmal einen Computerabsturz, bedeutete dicke Luft in der Abteilung, Hektik im Rödlich’schen Büro. Er ging kurz zurück. Klopfte an die Türe und rief:
>Guten Morgen Frau Rödlich. Geht’s Ihnen gut?<
>Ausgezeichnet!< hörte er sie kreischen, und in dem Wort lag all ihre Wut.
Er lief wieder in sein Büro und zog die Türe hinter sich zu. Es drangen noch einige schrille Wortfetzen zu ihm vor. Es war ein wundervoller Morgen. Da standen seine Freunde. Ein jeder wurde von Dr. Kneidel namentlich bedacht. Sie waren Pflanze für Pflanze nach alphabetischer Reihenfolge angeordnet von links nach rechts die Fensterbänke entlang. Dr. Kneidel zog behutsam sechs Fliegen aus seinem Beutel hervor. Es waren verschiedenfarbige, hauchfeine Tüllfliegen. Er wählte voller Bedacht die Farbe für jede Pflanze. Anton bekam die rote Fliege, denn er war etwas zierlicher geraten und brauchte die kraftvollste Farbe. Der federleichte Tüll belastete nicht einmal das zarteste Blättchen.
>Hallo mein Anton, prächtig siehst du aus<, flüsterte er. Seine Bürotüre hatte er geschlossen. Ein Signal, dass er ungestört sein wollte bis er sie wieder öffnete. Frau Rödlich ärgerte sich über Dr. Kneidels >Allüren<, wie sie es nannte, denn er missachtete ihre persönliche Sphäre und drang mitunter ohne anzuklopfen in ihr Büro ein.
Bert bekam die orangene Fliege. Dr. Kneidel wollte jedem Freund Gutes tun. Und Orange ist die Farbe der Lebensfreude. Christoph, der Kluge mit der gelben Fliege, gelb, die Farbe der Intelligenz. Für Dorian das zarte Grün, das Herzschlaggrün. Ernst mit Blau als Farbe der Ruhe und Felix mit Violett, der Schwingung des Heilens, des Übersinnlichen.
Dr. Kneidel fühlte sich in die Bedürfnisse seiner Freunde ein. Ebenso konnten sie seine Gedanken lesen und reagierten auf seine Zuneigung mit intensivem Wachstum. Heuer stießen die Spitzen der oberen Blätter von Dorian und Felix schon an die Decke des Raumes. Mit Bewunderung aber auch Sorge beobachtete Dr. Kneidel diese Vitalität.
>He, ihr beiden, was mach ich nur mit euch<, flüsterte er und strich zart über die Blätter. Ihm war, als wehte ihm ein Hauch Jasminduft entgegen. Er wusste, dass Jasmonsäure ein Alarmstoff der Pflanzen ist. Bei Verletzung und Gefahr geben sie diesen flüchtigen Stoff frei.
>Aber meine Lieben. Wir feiern heute ein Fest. Es
Kommentare
Die Siegespalme kriegt der Text -
Der blühend aus sich selber wächst!
LG Axel
Danke, lieber Axel. Dein Kommentar - originell, wie stets - macht froh und motiviert.
LG Monika
WOW, was für ein faszinierender Text.
Und ob du:s glaubst oder nicht:
Es gibt sie schon, die Pflanze mit menschlicher DNA. Ein Forscher hat einer Geranie seine DNA - wie soll man sagen - eingepflanzt? Er hat diesem Gewächs auch einen speziellen Namen gegeben, aber da habe ich leider nicht genug aufgepasst, mir den zu merken. Die Pflanze sah jedenfalls wundervoll aus!
Oh! Dein Kommentar, liebe noe, animiert mich zu einer Recherche. Toll. Und DANKE!
LG Monika
In der Mediathek von zdf-info vom 28.01.2016 kannst du drei äußerst interessante Videos sehen (jedenfalls heute, am 30.01.2016, ist das noch so), deren Inhalt zum Teil auch in deinem Text wiederkommt (Jasminduft z. B.). Im dritten Video bei Min. 38,30 beginnt das, was ich oben beschrieben habe - nur, dass der "Wissenschaftler" ein Künstler ist und die "Geranie" eine Petunie (gefällt mir sowieso besser!). Der US-Künstler heißt Eduardo Kac und die "neue Lebensform" wird von ihm "Plantimal" genannt, weil in der Pflanze pflanzliches und tierisches (Säugetier Mensch) Genmaterial vereint ist:
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/live/1822586/ZDFinfo-im-Livestream#/suche/Die%20geheime%20Welt%20der%20Pflanzen
Viel erhellendes (?) Vergnügen,
noé
Für die Info hab Dank, liebe noe. Das macht schon fassungslos. Ein erhellender Wahnsinn. Edunie, das Mischwesen aus Petunie und Eduardo Kac. Mal schau'n wie es mit uns weiter geht...
LG Monika
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