Es waren die letzten Züge die er nahm, bevor er sich wieder nach drinnen in sein eher ungemütliches Heim verzog. Viel blieb ihm an diesem Tag nicht mehr. Die Arbeit war getan und die Sonne, welche die letzten Stunden nur vereinzelt einen Blick auf die Erde warf, schien sich nun langsam aber sicher ganz zu entfernen. Von seinem Balkon konnte Dave noch ein paar Gestalten erkennen. Sie schlenderten über die Straßen, so als hätten sie nicht einmal die Ahnung eines Zieles. Verloren. Orientierungslos und gefangen in einem Leben, welches sich immer weiter und weiter drehte. Um sich selbst und um die eigene Ziellosigkeit. Die Jungen die ihr Leben lang alles hatten und deshalb auch nichts. Nichts für dass es sich zu kämpfen lohnen würde. War es nicht zuletzt die Großartigkeit einer Welt, in der es keine Rolle spielte wie tief man gesunken war, da es immer jemanden gab der tiefer war. Mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass es immer Hilfe gab, egal wie aussichtslos die Lage auch zu sein scheint. Egal wie oft man versagen würde. Es würde immer ein Standbein geben, ein Dach über dem Kopf und etwas zwischen den Zähnen. Immer ein bisschen was für den Rausch, die ohne hin schon geschädigte Seele und den verwaschenen Verstand. Die Zigarette fand ihr schnelles Ende, als er sie am Geländer ausdrückte und vom dritten Stock aus auf die Straße schnippte. Dave schien es immer wieder zu verdrängen, dass er Raucher war, wenn er in der Stadt unterwegs war. Er wollte sich schon längst einen Aschenbecher zu legen. Aber der Filter verendete wie jeden Abend zwischen Eingangsbereich und Straße. Er schloss die Glastüre zum Balkon und setzte sich auf die Couch. Weit hatte er es nicht. Die Wohnung war klein. Küche, Bad und das Esszimmer, welches zu gleichen Teilen auch sein Wohn- und Schlafzimmer war. Die Couch die einzige Sitzmöglichkeit. Abgesehen von der Toilette, deren Spülung zu schwach für Daves Geschäfte schien. Das Bad brachte somit auch seine stinkenden Unannehmlichkeiten mit sich. Er begutachtete so als wären sie ihm fremd, die Gegenstände die da auf dem Tisch herumlagen. Eine Auflaufform mit kalt gewordener Lasagne, ein aufgeklapptes Einhandmesser, mehr stumpf als scharf, zwei leere Bierflaschen und ein Berg an Briefen und Papieren, vor dessen Anblick jeder, der ein nicht so geschulter Bürokrat war, in Tränen zusammenbrechen würde. Aber Dave war nicht zusammengebrochen. Er fand sich mit dieser aussichtslosen Situation ab und warf einen Blick in den alten Röhrenfernseher. Die Nachrichten erzählten ihm von den Massenmorden die im nahen Osten seit Tagen verübt wurden, von dem Sexskandal irgendeines bornierten Politikers, von der Abholzung eines Waldgebietes und der damit einhergehenden Zerstörung des Lebensraumes unschuldiger Tiere zugunsten eines Automobilkonzerns. All das nahm in keinster Weise Einfluss auf Daves Lebensumstand. Weder hinderten ihn diese Dinge, noch brachten sie ihn weiter. Sie verschafften ihm lediglich schlechte Laune. Die Geschichte mit dem Weltschmerz war eine alte. Alles war erzählt und aber mal erzählt worden. Dave suchte nach der Fernbedienung um nicht vollends der Langeweile zu verfallen. Er wusste auch darum, dass ihn diese Dinge die er da sah länger beschäftigen würden, wenn er sich darauf einließ. Er suchte zunächst mit seinen Augen auf dem Tisch. Als er sie dort nicht auffinden konnte wanderte sein Blick zuerst nach rechts, dann nach links. Er schob seine Hand unter sein Gesäß. Nichts. In den letzten falten seiner Couch fand er ebenfalls nichts. Die Fernbedienung war verschwunden. Zu faul war er und zu bequem die Position in die er vom Abtasten der Lederfläche gerutscht war. Der Oberkörper lag gekrümmt, der Kopf von der Rückenlehne gestützt und die Beine unter den Tisch gestreckt. Dave starrte in die Glotze, zu seinem Glück hatte er die Nachrichten mit der Suche nach der Fernbedienung übergangen. Er verfolgte etwas gelangweilt die Wetteraussichten für die kommenden Tage. Stürmisch prophezeiten die Experten. Ein Orkantief. Einige Länder hatten schon die Schulen und manche öffentliche Einrichtungen geschlossen. Damit sich die Bürger nicht auf den Straßen aufhalten und die Gefahr besteht, von umherfliegenden Mülltonnen erschlagen zu werden. Aber nicht hier wo Dave lebte, dachte er sich. Seine fleißigen Mitbürger würden den durch den Sturm verursachten Stau mit einplanen und extra früh aufstehen um noch pünktlich, gerade dem Tot entgangen bei der Arbeit zu stehen. Die Geschäfte würden laufen. Selbst wenn die Bomben fallen würden, dachte er sich, die Geschäft würden laufen, genauso wie das staatliche Indoktrinierungsprogramm der Schulen und Kindergärten. Er erhob sich aus seinem Sitz der inzwischen schon zu schmerzen begann, wagte ein paar schnelle Schritte zur Röhre, tippte auf den Pfeil nach rechts, wobei er zweimal drücken musste, da der Knopf nicht mehr richtig funktionierte und sprang wieder zurück zur Couch. Der Sender wechselte. Er schnappte sich das Einhandmesser, stellte es sanft mit der Spitze nach unten auf den Tisch und drehte es, geschickt mit Zeige- und Mittelfinger, am Griff. Der Tisch bewies Daves häufige Langeweile. Einige Bohrlöcher zierten ihn. Während sich das Messer schon fast wie von selbst drehte und seine Spuren auf dem Tisch hinterließ, wandte sich Dave einem älteren Film zu. Eine aufgesetzte Komödie, die durch ihren absehbar schlechten Humor und ein exorbitantes Gehabe nicht einmal halb so witzig war wie die verloren gegangene Fernbedienung. Aufstehen wollte er trotz alle dem nicht mehr. Er sah sich also den Streifen mit Wiederwillen an und wartete. Er wartete auf den Moment an dem die Müdigkeit dem Schlaf wich. Aber selbst als diese erbärmlich massentaugliche Komödie ihren verdienten Tot fand und die selben Nachrichten wie zuvor abliefen, mit der zusätzlichen Information, dass es Neuwahlen geben würde, weil sich die Demokratie wieder einmal nicht einig geworden war, geschah nichts. Seine Hose die er irgendwann in der letzten Stunde ausgezogen hatte, lag unter dem Tisch. Er ergriff von einer liegenden Couchposition aus ein Hosenbein und holte aus der Tasche seine Zigarettenschachtel hervor. Dave kämpfte sich ohne Hose, mit schweren Schritten und schwerem Atem zur Glastür, öffnete sie und trat nach draußen in die finstere Nacht. Er steckte sich die Kippe an, nahm einen tiefen Zug und blickte auf die Straße. Es war tiefe Nacht, der neue Tag würde bald anbrechen. Die Straße die vereinzelt von den Laternen beleuchtet wurde, war anders als bei der letzten Zigarette nun wie leergefegt. Keine Seele die verloren umherwandelte. Nur ein schwarzer Schatten, welcher bei genauerer Betrachtung als Katze ausgemacht werden konnte, huschte vorbei. Zu lange war die Nacht, dachte er sich rauchend und in die endlose Dunkelheit blickend. Erneut schnippte er den Filter über das Geländer hinweg in den Eingangsbereich, bevor er durch die Glastür nach drinnen ging. Er schaltete im Vorbeigehen die Röhre und das Licht aus und legte sich auf die Couch. Er fragte sich, wie wohl der bevorstehende Arbeitstag aussehen würde. Übernächtigt, mit Augenringen, die selbst schon von Tränensäcken untermalt wurden. Drogen, Alkohol, alles würden sie ihm wieder unterstellen, weil er aussah, wie er aussah und nicht einmal etwas dafür konnte. Lediglich der Schlaf war es der ihm fehlte. Er konnte aber noch arbeiten, gerade noch so und solang er das konnte, würde es schon gehen. Wie er da so lag, auf seiner alten kaputt gesessenen Couch begann er sich Gedanken zu machen. Über seine Eltern, welche einst so große Hoffnungen in ihren Spross gesetzt hatten, so viele Erwartungen. Es tat ihm leid, beinahe bekam er Gewissensbisse, denn er konnte die elterlichen Ansprüche nicht einmal im Ansatz erfüllen. Er war weder Arzt, noch Leichtathletik Profi geworden. Er hatte es nicht einmal geschafft in eine ordentliche Wohnung zu ziehen. Er war sich darüber im Klaren, dass er im Vergleich zu vielen anderen Schicksalen noch Glück hatte. Er lebte weder auf der Straße, noch war er im Knast, oder der Psychiatrie. Ganz zu schweigen von all denen die tatsächlich in irgendwelchen Kriegsgebieten lebten und tagtäglich dazu gezwungen waren irgendetwas moralisch verwerfliches zu tun, nur um durch den Tag zu kommen. Als er mit diesen tragischen Gedanken, welche ihn sich aber besser fühlen liesen, einen Abschluss mit seinen Eltern machen konnte, erinnerte er sich an seine Schulzeit. Er verfluchte als Schüler das Schulgebäude und die Lehrer. Aber wie die Alten es schon immer prophezeit hatten, war auch er nun an einem Punkt angekommen, an welchem er sich in genau jene Zeit zurück wünschte. Er erinnerte sich an seine alten Freunde, an die ersten Züge einer Zigarette, den ersten Joint, das erste Bier, die ersten Schlägereien und den ersten Ärger mit der Polizei. Den ersten Kuss, bei welchem er vor Aufregung fast um den Verstand gekommen wäre. Alles war damals neu. Alles war Abenteuer. Heute ist alles alt und abermal erlebt worden. Und wie sich Dave an seinen ersten Kuss erinnerte, dachte er nun auch über seine Freundin nach, welche er seit Tagen nicht mehr gesehen hatte. Er vertraute dieser Stille nicht. Es war paradox. Er brauchte die Ruhe und die Zeit für sich, auf der anderen Seite hatte er aber auch eine gewisse Angst gegenüber der damit einhergehenden Einsamkeit. Die Luft schien raus zu sein. Ändern könnte er in seinem Zustand nicht viel daran und er hatte nicht vor in Liebeskummer und alte pupertäre Muster zu verfallen, welche für ihn erfahrungsgemäß immer mit einem ziemlich bitteren Nachgeschmack endeten, also schloss er bedauernd auch damit ab. Es war schon halb 4, als ihm einfiel, dass er kommenden Abend noch eine Verabredung mit einem Freund hatte, welchen er schon lange nicht mehr gesehen hatte. Richtig freuen konnte sich Dave darauf aber nicht, denn die Müdigkeit war ein ständiger und hinderlicher Wegbegleiter, welcher ihm zwischenmenschliche Interaktion in großem Maße erschwerte. Vielleicht sollte er sich Medikamente holen um wieder einmal richtig zu schlafen. Er war aber ein Skeptiker, was die Pharmaindustrie anging. Gift, so hatte er es gelernt. Alles Gift was den Menschen in diesen kleinen Dingern verabreicht wird. In einer so kleinen und bedeutungslos erscheinenden Kapsel liegt Himmel und Hölle. Krieg und Frieden. Genie und Wahnsinn. Dave fand sich damit ab, dass er war wie er war. Weder war er ein Genie, noch war er Wahnsinnig. Alles was er war, war müde. Und es war ein fast unerträglicher Kreislauf. Damit er bei der Arbeit die nötige Leistung bringen konnte, trank er Kaffee. Nicht gerade wenig. Und Kaffee hat ja bekanntlich die Eigenschaft einen Wachheitszustand zu bestärken. Einen Zustand, den Dave sich aber alles andere als ersehnte. Die Uhr lies die Zeiger unheimlich schnell drehen. Die Zeit verfolg in solchen Nächten für Dave. Würde nur der Tag ebenso schnell sein Ende finden. Dave lag auf der Couch und drückte seine Augen mit aller Kraft die er aufbringen konnte zu. Die Lider begannen zu schmerzen und er wusste, dass dieser Versuch, dieser aussichtslose Kampf zu nichts führen würde. Er öffnete die Augen inzwischen war es halb 5 und unerwartet aber mit Freude überkam ihm ein wohliges Gefühl. Die Augenlider wurden schwer und Dave wusste was nun geschehen würde. Um 6 musste er wieder raus. Eine Stunde und etwa 30 Minuten Zeit sich der schönsten Beschäftigung auf Erden hinzugeben. Dem Schlaf. Die Zeit würde nicht ausreichen um erholt in den Werktag zu starten und auch nicht um seinem alten Bekannten ein aufmerksames Ohr zu schenken. Und als der Wecker ihm, wie jeden Morgen pünktlich um 6 Uhr, zu verstehen gab, dass die Erholung nicht gewährleistet war, erinnerte sich Dave daran, dass er in guten Nächten sogar bis zu 4 Stunden Schlaf fand. Die Hoffnung war nicht verschwunden, nur der Schlaf.
In guten Nächten
von Magnus Deweil
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