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den Hals, küßte mich zehnmal, indem er Freudentränen vergoß, und sagte endlich, er hätte die Hoffnung aufgegeben, mich wiederzusehen.
»Was machen unsere teuern Freundinnen?«
»Sie befinden sich vortrefflich; Sie sind noch immer der Gegenstand ihrer Unterhaltung und ihres zärtlichen Bedauerns; sie werden sich außerordentlich freuen, wenn sie erfahren, daß Sie sich hier befinden.«
»Sie dürfen nicht zögern, sie damit bekannt zu machen.«
»Nein, gewiß nicht, denn ich will sie darauf vorbereiten, daß wir diesen Abend alle miteinander essen werden. Apropos! Herr von Voltaire hat sein Haus in Délices an den Herzog von Villars abgetreten und wohnt jetzt in Ferney.«
»Das ist mir gleichgültig, denn ich beabsichtige diesmal nicht, ihn zu besuchen. Ich bleibe zwei bis drei Wochen hier und widme diese Ihnen ganz.«
»Sie machen mich glücklich.«
»Ehe Sie gehen, bitte ich Sie, mir Schreibgerät zu besorgen, um drei oder vier Briefe zu schreiben; ich werde meine Zeit bis zu Ihrer Rückkehr darauf verwenden.«
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schrieb sogleich an meine Haushälterin, Madame Lebel, daß ich etwa zwanzig Tage in Genf zuzubringen gedächte und daß ich nach Lausanne kommen würde, wenn ich gewiß wäre, sie wiederzusehen.
Als der Syndikus und ich uns am Abend zu unseren hübschen Kusinen begaben, sah ich einen schönen, englischen Wagen, der verkäuflich war, und vertauschte ihn gegen den meinigen, indem ich hundert Louisdor zugab.
Während ich den Handel schloß, erkannte mich der Onkel der schönen Theologin, welche so vortrefflich die Thesen besprach und der ich so angenehmen Unterricht in der Physik erteilt hatte; er umarmte mich und bat mich, am nächsten Tage bei ihm zu speisen.
Ehe wir zu unseren liebenswürdigen Freundinnen kamen, sagte mir der Syndikus, daß wir bei ihnen ein sehr hübsches Mädchen finden würden, welches in die süßen Mysterien noch nicht eingeweiht wäre.
»Desto besser,« sagte ich, »ich werde mich danach zu benehmen wissen und vielleicht ihr Weihepriester sein.«
Ich hatte ein Schmuckkästchen mit einem Dutzend sehr schöner Ringe in meine Tasche gesteckt.
Ich wußte seit langer Zeit, daß man durch dergleichen Kleinigkeiten einen weiten Weg in kurzer Zeit zurückgelegt.
Der Augenblick, in welchem ich diese reizenden Mädchen wiedersah, war, ich gestehe es, einer der angenehmsten meines Lebens.
Ich erkannte aus ihrem Empfange die Freude, die Befriedigung, die aufrichtige Dankbarkeit und die Liebe zum Vergnügen.
Sie liebten sich ohne Eifersucht, ohne Neid, und ohne irgendeinen jener Gedanken, welche der guten Meinung hätten schaden können, die sie von sich selbst hegten.
Sie erkannten sich meiner Achtung würdig, weil sie mir ihre Gunstbezeugungen ohne irgendeinen erniedrigenden Gedanken gewährt hatten und nur durch den Antrieb desselben Gefühls, welches mich zu ihnen zog.
Die Anwesenheit ihrer neuen Freundin nötigte uns, unsere ersten Liebkosungen auf jene gewöhnliche Art zu beschränken, welche man anständig nennt, und die junge Novize gewährte mir dieselbe Gunst, indem sie errötete und ohne die Augen aufzuschlagen.
Nach einigen alltäglichen Redensarten, jenen gewöhnlichen Tummelplätzen, die man nach einer langen Trennung zuerst ausspricht, sowie nach einigen doppelsinnigen Worten, über die wir lachten und welche der jungen Agnes Stoff zum Nachdenken gaben, sagte ich ihr, sie wäre schön wie eine Amorette, und ich möchte darauf wetten, daß ihr Geist, ebenso schön wie ihr reizendes Gesicht, für gewisse Vorurteile nicht empfänglich wäre.
Mit bescheidenem Tone antwortete sie mir: »Ich habe alle Vorurteile, die mit der Ehre und der Religion zusammenhängen.«
Ich sah, daß man sie schonen, Zartgefühl zeigen und abwarten mußte.
Das war keine Festung, die sich durch einen Handstreich im Sturme einnehmen ließ.
Meiner Gewohnheit nach wurde ich indes verliebt in sie.
Der Syndikus nannte meinen Namen. Da rief das junge Mädchen:
»Ach, Sie sind es also, mein Herr, der vor zwei Jahren eigentümliche Fragen mit meiner Kusine, der Nichte des Pastors, besprach? Es freut mich, daß ich Gelegenheit habe, Sie kennen zu lernen.«
»Ich schätze mich glücklich, Mademoiselle, und wünsche, daß Ihre liebenswürdige Kusine, indem sie mit Ihnen von mir sprach, Sie nicht gegen mich eingenommen hat.«
»Im Gegenteil, denn sie schätzt Sie sehr.«
»Ich werde die Ehre, haben, morgen mit ihr zu essen, wo ich nicht unterlassen werde, ihr meinen Dank zu sagen.«
»Morgen? Ich will es so einrichten, daß ich auch mit bei dem Diner bin, denn ich liebe die philosophischen Besprechungen sehr, obgleich ich mir nicht zu gestatten wage, ein Wort hinein zu mischen.«
Der Syndikus lobte ihre Klugheit und pries ihre Verschwiegenheit so eifrig, daß ich deutlich sah, er sei in sie verliebt, und daß er mit allen Mitteln auf das Ziel lossteuerte.
Das schöne Mädchen hieß Helene. Ich fragte die Freundinnen, ob die schöne Helene ihre Schwester wäre.
Die Älteste antwortet mir mit einem feinen Lächeln, sie wäre Schwester, hätte aber keinen Bruder, und umarmte sie.
Der Syndikus und ich wetteiferten, ihr Schmeicheleien zu sagen.
Helene errötete, erwiderte aber kein Wort auf alle unsere galanten Redensarten.
Darauf zog ich mein Schmuckkästchen hervor, und da ich die Mädchen entzückt über die Schönheit meiner Ringe fand, wußte ich sie dahin zu bringen, die zu wählen, welche ihnen am besten gefielen; die reizende Helene folgte dem Beispiele ihrer Gefährtinnen und belohnte mich durch einen bescheidenen Kuß.
Darauf verließ sie uns und wir befanden uns nun im vollen Besitz unserer früheren Freiheit.
Der Syndikus hatte Recht, in Helene verliebt zu sein, denn das junge Mädchen besaß nicht nur alles, was erforderlich ist, um zu gefallen, sondern auch alles, was eine heftige Leidenschaft hervorbringen kann; die drei Freundinnen schmeichelten sich indes nicht, sie dahin zu bringen, daß sie Teil an unseren Vergnügungen nähme, denn sie behaupteten, sie besäße den Männern gegenüber ein unbesiegliches Gefühl der Schamhaftigkeit.
Wir aßen sehr heiter miteinander zu Abend und nach dem Essen nahmen wir unsere Spiele wieder auf, wobei der Syndikus wie gewöhnlich ein bloßer Zuschauer unserer Taten blieb und sehr zufrieden war, nichts weiter zu sein.
Um Mitternacht trennten wir uns und der gute Syndikus begleitete mich bis zur Tür meiner Wohnung.
Am nächsten Tage begab ich mich zur Tafel des Pastors, wo ich eine zahlreiche Gesellschaft antraf, unter anderen auch Herrn von Harcourt und Herrn von Ximènes, welcher mir sagte, Herr von Voltaire wüßte, daß ich in Genf wäre und hoffte, mich zu sehen.
Ich begnügte mich, ihm durch eine tiefe Verbeugung zu danken.
Mademoiselle Hedwig, die Nichte des Pastors, sagte mir eine sehr schmeichelhafte Artigkeit, die mir nicht weniger gefiel, als der Anblick ihrer Kusine Helene,