Lieber Herr A.,
ich habe, entsprechend Ihrem Rat, im Internet die Anleitung "Hobbydichter - Eine Anleitung" durchgelesen und mit dieser Hilfe einige (gute?) Reime verfertigt.
Was mir Kummer macht, ist das Finden von Gedichtthemen. Darauf wird in der besagten Schrift gar nicht eingegangen. Ich bin aus lauter Verzweiflung schon soweit gegangen, dass ich (Psst!) Themen von anderen Dichtern sozusagen "abgekupfert" habe. Aber das ist ja keine Lösung auf Dauer...
Ein Thema, bei dem ich mich zuhause fühle, ist Wald/Bäume. Ich war schon immer ein Waldwanderer, schon seit meiner frühen Jugend. Ich wollte Förster werden, hat aber nicht geklappt. Biologie war nicht mein Fach - mit Ausnahme von Bäumen, auch ausländischen. (Ein naher Verwandter von mir ist Förster.) Die wollten von mir wissen, aus wie vielen Knochen ein Bärenskelett besteht! Was hat das mit Wald zu tun? Wohl eher mit Tierarzt.
Zum Thema Wald/Bäume habe ich mehrere (gute?) Gedichte verfasst. Eins beginnt so:
Wenn die Bäume im Wald
verlieren ihre Blätter,
wird den Bäumen es kalt,
sagt der Förster, mein Vetter.
und endet so:
Der Wind befreit den Baum vom Blatt,
damit der Sturm im Herbst nicht hat
die Kraft, den Baum zu fällen.
Meine Oma (92) verehrt und liest die Gedichte von Eichendorff seit ihrer Schulzeit. Sie mag meine Baum/Wald-Gedichte, besonders das Ende des obigen.
Jetzt aber zu meiner Frage, dem Grund meines Schreibens:
Haben Sie eine bestimmte Verfahrensweise, die Ihnen hilft, gute Gedichtthemen zu finden? Und: Würden Sie mir, einem Anfänger, diese verraten?
***
Lieber Kollege B.,
danke für Ihr Schreiben.
Ich freue mich, dass Sie mit großem Ernst und Eifer dabei sind, Gedichte zu verfassen.
Ich kenne das Themenproblem aus meiner eigenen Anfangszeit als Hobbydichter. (Ich bin eigentlich noch immer Anfänger, auf keinen Fall ein "Fertiger". Ein kluger Mann sagte mir einmal: "Ich bin lieber ein Anfänger als ein Aufhörer.")
Über das "Themenfinden" wird nicht soviel diskutiert im Internet. Niemand will so richtig seine "Masche" verraten. Ich weiß nicht, ob ich eine "Masche" habe, aber eine "Verfahrensweise" habe ich. Durch Zufall - im Zusammenhang mit meiner nachmittäglichen Ruhepause - kam ich auf ein "Themenfindsystem", das bei mir funktioniert. Ich habe kein Problem damit, diese meine "Erfindung" an einen engagierten Kollegen weiterzugeben:
Ich lege mich auf mein mit einer grünen Decke und einem 80x80-Kissen versehenen Bett im Arbeitszimmer auf den Rücken und lasse die Gedanken "durchlaufen". Ich habe festgestellt, dass dieses "Siebverfahren" mir gute Ergebnisse bringt. Und das nicht nur themenmäßig, manchmal gibt es mir eine komplette Zeile, aus der sich dann ein ganzes Gedicht ergibt.
Wie gesagt, dies ist mein persönliches "Rezept", ein bequemes und ergiebiges obendrein. Es wäre aber reiner Zufall, wenn dies so auch bei Ihnen funktionieren würde.
***
Geschätzter Herr A.,
es ehrt mich, dass Sie mich als Kollege bezeichnen.
Ihre freundlichen Zeilen geben mir zusätzlichen Auftrieb. Ich habe Ihr "Themenfindsystem" ausprobiert (mit kleinerem Kissen und anderer Deckenfarbe ;-)
Nur: Sie schreiben "...durchlaufen lassen...". Durch was?
***
Lieber Kollege,
Sie dürfen das nicht so wörtlich nehmen. Es handelt sich darum, eine gute Stimmung in sich aufzubauen, an Dinge zu denken, die einem Freude bereiten, z. B. schöne Natur- oder andere Erlebnisse. Auch beim Spazierengehen kann man in so eine Stimmung kommen. Dann fliegen schöne Gedanken durch den Kopf, anwendbar auch für ein Gedichtthema. Bei solchen Gelegenheiten "fängt" man sich Gedanken, man wird ein "Gedankenfänger".
Aus so einem Gedanken muss nicht unbedingt ein Gedichtthema resultieren. Er kann auch dazu dienen, gute Laune zu bekommen, die man an andere weitergeben kann. Dass man sich traut, sich auf eine Bank zu setzen, auf der bereits jemand sitzt, ein Unbekannter. Und am Abend freut man sich, dass aus einem Unbekannten ein Bekannter geworden ist. Dies könnte z. B. ein Thema für ein Gedicht sein.
Nicht das Gedichteschreiben ist das Wesentliche für einen Gedankenfänger. Es gilt, sich selbst und das, was man tut, zu mögen.
Man sucht nicht Gedanken, man findet sie, egal ob man liegt oder geht. Und mit jeder Ruhepause, mit jedem Spaziergang werden es immer mehr, die Anzahl der möglichen Gedanken ist unendlich. Aus Gedanken werden Worte, die man schreibt oder spricht. Die grenzenlose Fantasie formt grenzenlos Worte. So werden Worte manchmal zu Poesie. Worte sind Magie. Und diese, unsere eigenen Worte, werden stetig mehr. Sie gehen ins Unendliche, so wie alles ins Unendliche geht - und gleichzeitig seinem Ende entgegen.
So wie der Schatten eines Baumes vor der untergehenden Sonne.
© Willi Grigor, 2017
Im Text angeschnittene Gedichte:
literatpro.de/gedicht/250116/gedankenfaenger
literatpro.de/gedicht/030816/schattenspiel-am-sommerabend
literatpro.de/gedicht/141116/worte-sind-magie