Von Edgar 7: Ein öder Sonntag

Bild von Klaus Mattes
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Diesen Samstag war es ihm gelungen, Lebensmittel für mehrere Tage einzukaufen. Heute machte er Wiener Schnitzel. Richtiges Wiener Schnitzel, aus Kalbfleisch, paniert mit Semmelbröseln und Ei. Und doch schmeckte es nicht, wie es bei Mutter geschmeckt hatte. Die Panade war mehr als braun, fast schwarz, doch innen machte das Fleisch einen irgendwie rohen Eindruck. Die Pommes aus dem Backofen waren so okay. Edgar überlegte, ob er wohl eine Fritteuse brauchte. War sich nicht sicher, ob er sie je reinigen würde.

Er hatte Riesling getrunken und der Wein stieg ihm etwas zu Kopf. Plötzlich war ein Verlangen da, jetzt noch eine zu rauchen. Er schaute sich um. Wie viel schmutziges Geschirr, das „tu was“ rief. Die Trivialitäten des Lebens brachten einen an den Abgrund der Verzweiflung. Inzwischen war Edgar daran gewohnt, in seiner Mittagspause mit Andrea und Leni von der Agentur ins Lokal zu gehen, wo sie günstiges und leckeres Tagesessen bekamen. Man hatte immer Unterhaltung.

Wenn man allein ist, scheint irgendwann das Dasein aus Mahnungen zu irgendeiner Pflicht zu bestehen. Staub mich doch ab! Bring mich weg! Kannst du dich aufraffen, destilliertes Wasser in mich zu füllen? Natürlich war man als Ungebundener auch ganz frei, sich diesen Mahnungen zu verweigern. Besonders sonntags. Bloß stürzte dann alles irgendwann als Lawine über einen her.

Edgar würde jetzt nichts tun. Nicht duschen würde er, obwohl er stank wie der Biber. Nur was Frisches anziehen. Diese Sachen hier hatte er ewig nicht getragen. Turnschuhe, vom Arsch gleitende Jeans, ein riesiges weißes Shirt mit einem amerikanischen College-Namen. Er setzte sich eine Basecap auf, zupfte die Haare, sah in den Spiegel und – nein! Es sah dämlich kalkuliert für Angemachtwerden in einer schwulen Disco aus. Das am Sonntag, wenn alles vorbei war.

Den Rest Wein in seiner Hand tänzelte er ins Wohnzimmer, gab dem Ficus was ab, sehen, ob ihm das schmeckt.

Er legte eine von Herberts Barbra-CDs auf. Die meisten älteren Schwulen hatten von dieser Streisand immer noch Platten rumstehen. Oder sie gingen in die Oper. Und zum x-ten Mal hatten die alten Säcke natürlich Recht. Die Céline Dion war viel mehr Plastik und viel weniger Glamour als diese blauäugige Jüdin mit der komischen Nase. Herbies Box war nett, so mit rosa Stoffbezug und einer Rose darauf. Das Booklet hatten sie stimmig komponiert. Immer wieder kamen schöne Fotos von Rosen. Herbie war fast blass geworden, als er ihn um sein rosa Box Set gebeten hatte. Kalt hatte Edgar es vermerkt, wie man Herbie erledigen konnte. Fettfinger auf dem Linnen seiner Streisand hinterlassen!

Der kleine Herbie war ja sein Freund gewesen, inzwischen anderweitig vergeben und innerlich auch schon verarbeitet. Herbie turtelte immer weiter mal mit Edgar, als ob er noch was wollte. Edgar guckte aus seinem Fenster und dachte an André. Die Wunde war frischer.

André in seinem auf Seitenscheitel gebügelten Leben hakte wohl wieder das Wochenendprogramm ab. Gestern Nacht also Disco. Anschließend erst ein Käsebrot und dann den Schwanz vom Freund. Noch war das dieser Ralf, ein Älterer. Bis Mittag zusammen geschlafen. Aus dem Maul stinkend war André über, auch da noch immer, diesen Ralf hergefallen. Bei ihm hier drinnen verkokelte ein Schnitzel, zur selben Zeit hatten André und dieser Ralf sich an den vermehrt stinkenden Teilen ihrer beider Körper vergnügt. Dazu hatte eines von den siebenhundert Klavierkonzerten von Mozart geplinkert.

„Can it be that all has been so simple then or has time rewritten every line?“, warf Miss Streisand die Frage auf. Nee, „einfach“ war es noch nie. Wenn von zwei Beteiligten auch nur ein einziger Edgar Jung hieß, war nichts jemals einfach.

Was mir einfach fehlt, dachte Edgar, ist so eine Kette mit den dicken, schwarzen Kugeln, die einem ganz eng am Hals anliegen. Ich brauch auch so einen Alten und der zieht mich da dran wie seinen Mops durch die Gegend, dass er noch mal ins Gespräch kommen kann mit anderen Leuten.

Gemäß, dass jedes Mal ein Programm bearbeitet werden sollte, ging es bei André sonntags dann raus an die frische Luft. Die Fußgängerzone runter und wieder rauf. Heten mit so ganz, ganz vielen Kindern, die Eis schleckten und Schaufenster mit Sanitätsbedarf, Bürokommunikation und Ehehygiene betrachteten. Und ewig die gleichen Tucken, jede von ihnen hatte schon ihre Stelle, wo man ihr über den Weg lief. Biegsam wirbelten sie die Handgelenke zum Grüßchen. Wir bunten Paradiesvögel über einem Ozean aus Langeweile. Gott, war das alles langweilig!

Mit André ging man dann aber noch immer weiter. Wohnblocks mit Klettergestellen und Ford vorm Haus, „Ein Herz für Kinder“, „D wie Deutschland“. Laut knallende Kaugummis auf Bänken neben einem Roller. Rentnergespanne und Eichhörnchen und dann die Jogger sowie das übrige Federvieh. Monsieur André Neumeier, ein renommierte Ornithologe. „Der war vor zwei Jahren der Vogel des Jahres. Aber in Wahrheit sind die bei uns schon ausgestorben.“

Diese grauenhaft lästige Eigenheit von Männern, auf die Beschlagenheit mit irgendwelchen obskuren Hobbys oder Wissensgebieten stolz zu sein. Herbie hätte ihm von jedem der Song aus seinem Streisand-Box-Set die Original-LP herbeten können, wo er zuerst veröffentlicht gewesen war. Und Edgar selbst? Na gut, er wusste noch zwanzig Titel von Fünf-Freunde-Romanen. Aber und darum ging es eben: Er zählte sie keinem jemals laut auf!

Miss Streisand prügelte sich mit Ray Charles durchs Duett. Ray Charles war ganz alt und schwarz und auch noch blind und trug immer coole Sonnenbrillen. Das lief dann unter „knorrig“ oder auch „authentisch“. Früher hatte wirklich jeder Star sein Duett mit Ray Charles singen müssen, sonst war er nämlich keiner. Später waren sie mit Tina Turner verkuppelt worden. Eigentlich fehlte, dass Tina Turner und Barbra Streisand „It’s Raining Men“ sangen.

Er ging an die Luft. Draußen lachte der Frühling ihn aus. Auch der Himmel lachte. Und die Sonne lachte. Die Magnolien lachten sich soeben noch tot. Türkenkids lachten um die Wette und um eine Tischtennisplatte herum. Ansonsten lachten die Menschen grundsätzlich nicht. So etwa jener Bärtige mit dem schmuddeligen Parka. Oder der dort mit der „Schloss“-Pilsener-Dose. Er, statt zu lachen, hustete Lunge sich weg und spuckte sie zufrieden aufs Parkett. Ein türkisgrüner Roadster von BMW schnurrte vorbei mit 80 am „Zone: Tempo 30“-Schild. Der Typ schwenkte seine Schloss-Büchse und knatterte sein „Grüß Gott“.

Bekanntlich muss man durch sieben dunkle Jahre hindurch, bis endlich mal ein gutes kommt, sieben Kröten, bis der Prinz einen küsst. Steht in der Bibel. Das hatte ihn auf sein Spiel gebracht. Er zählte sich die ersten sieben Typen ab, der achte würde sein Traumprinz werden. Heute war der Traumprinz ein Mittvierziger mit Glatze und Schnäuzer im himmelblauen Anorak, der war über den Arm mit einer Frau desselben Alters verknotet. Okay, das Siebener-System war nicht perfekt. Aber so dumm war es auch nicht. Auch hier wäre der Mittvierziger sogar hinnehmbar gewesen, nur seine Frau ging gar nicht.

Fast war es zu kühl, aber Edgar setzte sich auf eine der Bänke beim Fluss. Hier wieder rauchen, dachte er. Aber er würde heute nicht schwach werden, er würde sich keine Schachtel besorgen. Klingeling! Hier am Orte, klingeling! Fuhren sonntags die meisten Ehepaare mit, klingeling! Kindern, welche Wollmützen aufhatten, klingeling! Am Fluss entlang auf, klingeling! neuen und wirklich teuren, frisch, klingeling! Geölten Fahrrädern und ihre lieben Kleinen hatten klingeling! Mordsspaß, wenn diese Klingeln gingen. Dann auch wieder bellten Vögelein: „Warum ist Monsieur André Neumeier nicht anwesend und stellt uns alle vor?“

Daheim blinkte sein AB. Das war die ominöse Frau Jung, seine Mutter. Bei ihnen wäre sehr schönes Wetter und sie ginge noch spazieren, was er bestimmt auch gerade täte, wo das Wetter so schön geworden sei. Er wisse, auf den Hals müsse er gut Acht geben und hätte wohl seinen Schal mit. Tante Friederike, die Siebzigsten habe, ob Edgar da noch dran denke.“ Wusch, Gelöscht, digital. So viel über Edgars Liebe zu Mutter und Tante Friederike. Und weiterhin sah man ihn in der Heimat als Musterknaben.

Abwaschen? Doch Duschen? Eher Wichsen? Oder Fernsehen? Oder nachgeben und nach unten laufen als ein Süchtiger? Zum Glück schellte gerade das Telefon.

Edgars Leben war aber berechenbar. Also war es der Rico. Was es denn so treibe? Ach, nichts. Gekocht hätte er und einen Roman von Milan Kundera gelesen. Kundera wäre toll, ob Rico ihn schon kenne? Rico kannte so was nie im Leben, das war ihm klar.

„Toll, Eddi! Du bist so effektiv! Ich krieg rein nix auf die Rolle. Bin kaputt von gestern, im Buddies.“
„Du hast eine alte Flamme abblasen müssen? Oder was, das ich wissen sollte?“
„Nee, du! Ich bin solid gewesen. Wir haben nur zusammen getanzt. Das war auch geil. Praktisch das halbe „Rio“ war dort. Sehen wir uns heut dann im Rio?“
„Kann sein. Na, wahrscheinlich. Ich sag mal, halb zehn, dann aber nicht lang. Sonntag ist eh tot.“

„Es gibt auch was zu erzählen, was dich interessieren wird.“
„Waas?“
„Das wird jetzt noch nicht verraten. Bis später im Keller.“
„Vielleicht komm ich ja gar nicht. Ich hab nicht zugesagt, es ist nur wahrscheinlich. Ich muss was besprechen mit meiner Mutter. Das kann ein schwieriges Telefonat geben, dann hab ich den Nerv nicht.“

„Was von André.“
„Ach so, André. Dem geht’s ja gut, nicht?“
„Er war doch auch im Buddies. Und weißt du, er war mit dem Ralf dort.“
„Wahnsinn! Die tollsten Neuigkeiten hast du zuerst!“

„Ja, aber übernachtet hat André dann hier in der Stadt.“
„Ralf? Ich dachte, der wär nach Steinfurt gezogen.“
„Gell! Nein, Eddi, beim Ralf hat er nicht geschlafen!“

„Wenn er mit Ralf im „Buddies“ war, sind sie für die Nacht auch zusammen. Du erzählst mir bitte nicht, dass André zu sonst einem schlafen geht, wenn der Ralf es mitkriegen kann.“
„Na, der Ralf war ja selber auch dabei. Und der André hat nicht bei ihm geschlafen und nicht beim Ralf, sondern hier in der Stadt, aber nicht bei dir.“
„Und nicht bei dir.“

„Da da da da dada dada! Das ist das Harry-Lime-Thema. „Der dritte Mann“. Dein Vogelkundler und der Ralf sind zusammen mit einem großen Unbekannten gegangen und dieser Unbekannte trug einen Mantel und Schlapphut. Na, sagt es dir was?“
„Sollen sie! Aber stimmen tut’s nicht. Kann sein, dass einer sie mitgenommen hat, aber dann nicht zum Dreier. So was ist bei André gegen die Regel und erst recht, wenn Ralf dabei ist, dann erst recht.“

„Hat er dieses Mal aber. Ich weiß das.“
„Du weißt nix, du warst doch nicht dabei. Du warst es nämlich nicht. Oder warst du es etwa? Was soll das mit Hut und Mantel?“
„Edgar, ich und dich anschmieren? Nee! Ich weiß, wie viel dir am André nach wie vor liegt.“

„Er bedeutet so viel wie eine falsche Entscheidung, die man hinter sich gelassen hat. Und wer war’s denn dann? Hut und Mantel? Muss schon ein Älterer gewesen sein.“
„Du kennst sie so gut, die Gute.“
Edgar ächzte.

„Kann das vielleicht sein, das du momentan einige CDs von der Frau Streusalz bei dir zu liegen bekommen hast?“
„Was jetzt, der Herbie etwa!“
„Sonst kennst du auch keinen, der Hut und Mantel tragen könnte.“

„Der Herbie. Der Herbie Schütz! Der Herbie und der André und sein Ralf sollen zusammen einen Dreier gemacht haben?“
„Alle schmutzigen Details und die Beweise gibt’s nachher im Keller. Ich weiß, wir werden uns heute noch wiedersehen. Tschüssilein einstweilen!“

An sich war es nicht denkbar. Herbie und Ralf glichen sich von der Art her zu sehr, um sich überhaupt nur leiden zu können. Beide so der Bärige mit einer Brille, alle beide standen sie zwar auf so kleine Junge, wie der André war. Möglich war schon auch, dass André beide irgendwie interessant fand. Aber dieser Ralf holte sich doch keinen Dritten ins Boot, wenn das nicht sein Typ war.“

Edgar machte sich daran, sich meditativ in das Parallelleben seines einstigen Seelen-Zwillings zu senken. Nach Vögeln und Brunchen und den Vögeln und dem Mozart würde es, falls Herbie und Ralf immer weiter zusammen geblieben waren, Feldsalat mit Balsamico-Dressing und Jan Gabarek geben. Getröte aus Norwegen, Schweden, Dänemark.

Barbra Streisand brächte dann demnächst die Königin der Nacht heraus - im Disco-Remix. Wie lange würde Herbie wohl brauchen, bis er feststellte, dass jemand aus seinem Rosenbooklet eine Seite gerissen hatte?

Herbie würde das sofort merken. Spießer, der Herbie war, würde er es bei Rückgabe überprüfen, alle CDs gegen ins Licht halten. Doch Edgar brauchte so was ja gar nicht mehr. Er stand mit einem Mal über all diesem Kram. André sollte ficken, mit wem und wie vielen er wollte. André war Vergangenheit.

Schon gut war allerdings, dass an Sonntagen André nie ins „Buddies“ kam. Sondern die Nachtigallen zählte. Nein, er bügelte einfach nur Hemden, während der „Tatort“ lief. Also bügelte und glotzte Edgar heute Abend nichts, sondern ging tratschen mit Rico.