8037 Das Jobcenter ohne Nummer

Bild von Klaus Mattes
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Dichterisches Mittel, die Hartz-Leute hätten in den Jobcentern Nummern zu ziehen und würden in Schlangen auf den Gängen warten. Literarisches Mittel. Metapher, die der Dichter gebraucht, um zu signalisieren, als Bezieher von Leistungen nach dem Sozial-Gesetzbuch II werde man zur Nummer, entmenscht gewissermaßen. Nummern sind wir alle aber überall. Steuernummer beim Finanzamt. Steuer-Identifikationsnummer. Versichertennummer von der Krankenkasse. Rentenversicherungsnummer. Kundennummer des Internetproviders. Beitragskontonummer beim Beitragsservice ARD ZDF Deutschlandradio. Kundennummer unseres Energieversorgers. Bestellnummer im Online-Versand. Bitte immer parat haben, falls du was zu melden hast.

Dein Fallmanager hat dich einbestellt. Er weiß, warum er das macht. Er will was sehen von dir. Doch dir wird im Brief, dieser in ihrem Betreff so genannten Einladung, nur der Termin eröffnet, nicht der Betreff dieses Termins. Termine für Langzeitarbeitslose, welche doch auf Spätnachmittagsservice nicht angewiesen sind, denn der Arbeitsvermittlung haben sie ständig zur Verfügung zu stehen (bitte hier unterschreiben, dass Sie das Merkblatt gelesen haben, das Merkblatt ist ein zirka fünfzigseitiges Heft, das alle mehr oder weniger lange, äh, querlesen), sind werktags vormittags, das heißt zwischen 8 und 12 Uhr.

Es existiert ein EDV-System, mit dem die Termine verwaltet werden. Und in dem System eine Intervallvarianz (für die Mitarbeiter im Jobcenter – übrigens: längst keine Beamten mehr, weswegen ihr Haus auch nicht Arbeitsamt heißt) von 15 oder 30 oder 60 Minuten Dauer. In der Regel gibt es nicht diese gesamte Zeit für dich, weil dein Vermittler vielleicht vor dem nächsten, so genannten, Kunden erst noch eine Notiz hinterlegen möchte. Die gängigsten Termine sind halbstündig. Sie müssen nicht wirklich 30 Minuten dauern, aber wenn es länger wird, gibt es Probleme. Wie du jetzt begreifst, sind für so ein System keine zu ziehenden Nummern notwendig, wie die Nummernzettelchen schließlich in Arztpraxen auch nicht üblich sind.

Zettelchen wären erforderlich, wenn du einfach hinkommen, warten und drankommen könntest. Dem ist nicht so. Du kommst entweder, weil du einen Einladungsbrief erhalten hast oder weil du im Call Center angerufen und selbst um einen Termin gebeten hattest, um irgendwas vorzutragen. (Wobei selbstverständlich du dir die dafür notwendige Zeit nicht aussuchen konntest.)

Erscheint Herr Greve um 9.30 Uhr zum Termin, so findet er sich in einem menschenleeren Korridor. Vielleicht klopft er, nach einigem Zögern, an die Tür des Sachbearbeiters. Aber von innen erschallt ein Ruf: „Bitte noch einen Moment Geduld!“ und jetzt geht Herrn Greve auf, warum neben jeder Tür im Flur zwei oder drei leere Stühle warten.

Es liegt im Bereich des Möglichen, dass Herr Greve bis gegen zwanzig Minuten hier noch sitzen wird, aber mehr als dieses ist so gut wie ausgeschlossen. Jedenfalls reicht ihm die Wartezeit um zu beobachten, dass der Gang nicht so leer ist, wie er anfangs schien. Vielmehr laufen ständig irgendwelche Menschen, offenbar die Mitarbeiter, denn sie tragen keine Mäntel, Jacken und Mützen, dafür hin und wieder Kaffeebecher oder Pappmappen, von einem Büro zum anderen, begegnen sich im Flur, rufen sich fröhliche Stimmungsaufheller zu. Aber auch zum wartenden Greve verhalten sie sich höflich und wünschen ihm mit Wärme einen guten Morgen. Herr Greve aber ist unleidlich, weil ihm als Hartz-Empfänger sein strukturierter Tag mittlerweile schon entglitten ist.

Andere Hartz-Empfänger haben unterdessen da und dort neben anderen Türen Platz genommen und dort prallt schon einer gegen die Türe und wird sofort eingelassen, muss nicht eine Sekunde warten. Der war dann wohl zu spät dran. Vielleicht hätte Greve es auch so halten sollen. Aber Obacht: Mehr als 15 Minuten Verspätung und man kann sanktioniert werden. Nämlich mit einer zeitlich befristeten Absenkung der Hilfen zum Lebensunterhalt um 30 Prozent. (Diese Hilfen liegen leider auf Höhe des Existenzminimums, sanktionierte Hilfen also unterhalb desselben. Höchste Gerichte haben es vereinbar mit der Menschenwürde erklärt.)

Wir wollen in den stillen zwei Minuten noch einmal festhalten, dass in den Korridoren eines Jobcenters durchaus keine Warteschlangen sich umwälzen. Man will das überhaupt nicht, dass die Menschen sich aufstauen, von Gesicht zu Gesicht anschauen und am Ende irgendwas aufkochen könnte. Erinnert sei an die Tage, als irgendwas vorgefallen war, darum im Jobcenter die Schlagstöckigen einer privaten Security Wache standen. Die verschwanden später wieder. Aber die Drahtgitter vor den Fenstern der Eingangsbereiche vor diesen Gängen, die sind immer noch dort. Weil das alles im fünften oder zumindest vierten Stockwerk ist.

Auf einem der Stockwerke befindet sich auch die Erstaufnahme ins System. Vor dieser reiht man sich wirklich in einer Schlange ein, um an deren Ende wirklich ein Zettelchen mit seiner individuellen Nummer zu ziehen. Aber es muss, um jenes romantische Märchen von den Nummernziehern zu zerstreuen, gleich betont werden, dass man sich an dieser Stelle in aller Regel nur ein einziges Mal aufhält, nämlich wenn man, versehen mit seinem Personalausweis, zur ersten Mal erscheint, um den Verlust der Stelle zu melden. Alles Weitere geht nun nicht gleich und hier vonstatten, sondern man empfängt ein Papier, auf dem ein Besuchstermin - für einen anderen Tag – steht. Dieser Termin ist im Zeitverwaltungssystem eingepasst, sodass keine erneute Andrangsregelung erforderlich werden wird.

Blicken wir am Ende so eines informativen Texts zurück zu jenem Erstbesucher, der keinen nummernlosen Gesprächstermin hatte, weil er überhaupt noch nicht im System verzeichnet gewesen war. Was denn, wenn er einen besonders kundenreichen Zeitpunkt erwischt hätte, einen Monatsersten etwa, einen Montag oder, bei einer Auswahl zwischen 8 und 12 Uhr, sich für halb zwölf vormittags entschieden hätte, weil, in Folge seines strukturverlorenen Literatentagesganges, die Schlafenszeit alle Nächte erst um drei oder vier Uhr kommt und vor dem hellen Mittag nicht aufgestanden wird?

Zu so heiklen Zeitpunkten wären auch mal Wartezeiten von mehr als einer Stunde denkbar. Aber das geht so: Um Punkt zwölf wird vorne der Zugang für die Anmeldung zugeschlossen. Die innen drin Sitzenden dürfen aber noch bleiben und oben abpassen, bis ihre Nummer erscheint. Die Zahl der Arbeitenden ist in der Mittagspause zwischen zwölf und ein Uhr zwar vermindert, aber immer weiter muss eine Person hier arbeiten, bis die versorgt sind, die vor zwölf erschienen waren. Heraus gelassen werden sie durch die Hintertüre, vom Wachmann, der in diesem Bereich noch steht. Herr Greve muss heute also eine Stunde warten, weil er nicht willens war, sein Leben wie alle anderen daraufhin auszurichten, um acht Uhr taufrisch und sauber zu sein.

Herr Greve befindet sich gerade am Anfang eines Abschnitts seines Lebens, wo ihm aufgeht, dass die Lebensläufe sämtlicher Bürger hochentwickelter Industrie- und postindustrieller Dienstleistungsgesellschaften von unsichtbarer Hand angeleitet und vorgeformt sind. Einfach nur nicht mehr arbeitstätig zu sein, kann also mitnichten heißen, man könnte ab sofort ein anderes Leben führen. Wobei man dieses selbstverständlich müssen wird, denn vom Geld her reicht es nun nicht mehr zum normalen, das ist klar.

Kommentare

15. Feb 2021

Tolle Geschichte !
HG Olaf