Sie starrten auf die zerstörte Stadt herunter. Die Supermärkte waren längst komplett ausgeräumt. Nichts zu holen, seit Tagen. Aber Zeit, um zu verschnaufen. Die Sonne ging gerade unter und sie hatten ein schönes Plätzchen auf einem Hochhaus gefunden. Ihre Beine baumelten in der Luft.
„Ich bin in einer Stadt wie dieser groß geworden“, sagte Sam zu Lu. „Unglaublich schöner Ausblick.“
Sam nickte. „Ich weiß noch … wir sind damals hergekommen, weil man Vater einen Job bei einer Investmentbank bekommen hatte. Wenn man sich das mal vorstellt. Tausende Menschen sind jeden Tag durch diese Straßen gegangen. Kannst du dir das vorstellen?“
Lu schüttelte den Kopf. „Ich hab mein ganzes Leben auf einer Farm verbracht; kaum mal das Dorf verlassen. Vielleicht, drei, vier mal. Klar im Fernsehen sah man die großen Städte, aber das wirkte alles so...“ Lu wusste das Wort nicht mehr und seufzte.
Sam schaute traurig über die Stadt. „Alles zerstört. Alles kaputt.“
„Wie viele noch am Leben sind, was denkst du?“, fragte Lu.
„Keine Ahnung. Auf der Welt sicher noch einige, aber hier? Niemand. Ich glaube niemand. Wir sind die Letzten.“
Einige Zeit saßen sie schweigend nebeneinander.
„Es müsste bald Weihnachten sein“, sagte Lu.
Sam sah in die Ferne, sann irgendeinem Gedanken nach. „Weißt du Lu, zu Weihnachten sagte mein Vater immer, dass wir dankbar sein sollen. Denn immer wenn etwas Gutes passiert, passiert irgendwo etwas Schlechtes. Alles ist im Gleichgewicht. Wenn wir im Luxus leben, muss irgendjemand irgendwo dafür schuften.“
Lu nickte. „Dein Vater war klug.“
Sam überlegte kurz. „Er hat nicht recht gehabt, glaube ich. Es ist nicht so, dass wenn jemand ein Stück Schokolade bekommt, jemand anderes eines verliert.“
„Glaubst du nicht?“, fragte Lu.
„Ich glaube, dass für etwas Gutes, immer viel mehr Schlechtes passieren muss. Viel, viel mehr. So ist die Welt.“ Schweigend starrten sie in die Ferne.
„Du hast Recht, Sam“, sagte Lu.
Lu beugte sich zu Sam herüber, hielt einen Moment inne und schubste ihn dann das Hochhaus herunter. Sam war auf der Stelle tot.
„Ich hab wirklich Hunger.“
Auf einem Hochhaus
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Hörbuchversion von Auf einem Hochhaus