Die Sanfte
Ein Name. Aus unzähligen Mündern tröpfelte er an diesem Morgen. Die Gesichter, zu denen die Münder gehörten, zeigten Betroffenheit und Trauer, hier und da aber auch die verräterische Hautrötung der Sensationsgier, die es danach drängt, Einzelheiten zu erfahren und weiter zu verbreiten. Darin unterschieden sich die jungen nicht von den alten Gesichtern. Schülergesichter und Lehrergesichter.
Zu dem Namen, der durch die Schulkorridore waberte und von den Wänden der Klassenzimmer widerhallte, gesellten sich Wortfetzen. Ich brauchte nicht viel mehr um zu verstehen, dass jemand gestorben war.
Ein “Hast du schon gehört?” machte es für mich überflüssig, die Frage zu stellen. Wieder wurde der Name genannt. Es war der Name einer Frau. Einer Frau, die sich entschlossen hatte, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Eine offensichtlich sehr junge Frau, denn noch vor wenigen Jahren sei sie auf unserer Schule gewesen.
Es folgten Spekulationen über das Warum und eine erstaunlich genaue Schilderung des Wie.
“Du kanntest sie doch!” hieß es abschließend. Die erwartungsvollen Blicke, die dann auf mir ruhten, schienen um Erschütterung und vielleicht noch weitere Details zu betteln.
Ich werde gewiss eine betretene Miene gemacht haben, wie es sich für den Anlass eben gehörte, aber von einer Erschütterung spürte ich nichts. Wie auch? Ich konnte mit dem Namen einfach nichts anfangen. Sicher, sehr tragisch das alles. Es berührte mich auch irgendwie, aber ich hatte keine Ahnung, wer die Arme war. Da konnte man sie mir noch sooft beschreiben und behaupten, ich würde sie gekannt haben.
Der Unterricht begann, und es kehrte innerhalb weniger Stunden eine gewisse Normalität ein. Schon in der nächsten Pause beherrschten die üblichen Themen die Gespräche.
Ich grübelte währenddessen noch eine Weile vor mich hin und versuchte, dem Namen ein Gesicht zu geben. Vergeblich.
Dann kam sie, die Erschütterung! Mit voller Wucht traf mich die Erkenntnis mitten im Unterricht.
Ja, ich kannte sie! Sie war eine von den “Großen”, also ein paar Klassen über mir. In den Hofpausen riefen mich die großen Mädchen manchmal zu sich und ließen mich für sie singen. Dann nannten sie mich (was ich nur ungern zugebe) Heintje oder, wegen meiner hellblonden Haare, auch Heino. Oder sie lachten über meine Witze, die ich damals noch erzählen konnte. Wenn ich früher Schulschluss hatte als sie, gaben sie mir einen Groschen, für den ich im benachbarten Gemüseladen Sauerkraut aus dem Fass für sie kaufen sollte. Meistens blieb ihnen dann keine Zeit, es zu essen. Dann schenkten sie es mir. Ich stopfte mir das Sauerkraut in meinen Kindermund, während die Papiertüte langsam aufweichte und der Saft auf meinen Pullover tropfte.
Eines der Mädchen war sie. Man sah ihr an, dass sie eine von den Klugen war. Ich mochte sie. Wenn wir gleichzeitig Schluss hatten, machte ich manchmal einen Umweg, um sie nach Hause zu begleiten. Traf ich sie zufällig auf der Straße, gingen wir ein Stück zusammen. Sie war immer sehr freundlich und sprach mit mir nie wie mit dem albernen Kind, das ich war, sondern so, als wäre ich ein ihr ebenbürtiger Gesprächspartner. Instinktiv benahm ich mich dann auch viel reifer, als ich eigentlich war.
Auch als wir älter wurden, unterhielten wir uns gern. Aus ihr war, nachdem sie die Schule verlassen hatte, eine schöne junge Frau geworden. Es war nicht die aufreizende Schönheit, die die Männer dazu bringt, sich umzudrehen oder pubertäre Jünglinge einlädt, anzügliche Bemerkungen zu machen. Da war etwas Sanftes in ihrem Wesen, das sie vor billiger Anmache bewahrte. Gleichwohl wirkte sie alles andere als distanziert oder kühl. Man brauchte sich gar nicht verstohlen umzudrehen, sondern konnte ihr offen ins Gesicht blicken. Und wenn sie dann lächelte, war der Tag ein wenig schöner, als er es sonst gewesen wäre.
Wir waren keine Freunde. Wenn wir uns nach ihrer Schulzeit trafen, dann immer nur zufällig. Dann unterhielten wir uns. Wenn es die Zeit zuließ, begleitete ich sie noch immer gern nach Hause. Verabredet oder gar gegenseitig besucht haben wir uns nie.
Ich wusste eigentlich nicht viel von ihr, dazu waren unsere Begegnungen zu selten. Ich freute mich einfach nur, wenn ich sie sah, und ihr ging es, wie ich glaube, ebenso. Zu dem Wenigen, was ich über sie wusste, gehörte, dass sie studierte.
Bei unserer letzten Begegnung war das Studium auch eines unserer Gesprächsthemen. Es war eine dieser Zufallsbegegnungen. Ich hatte sie schon längere Zeit nicht gesehen und freute mich, als sie mich zu einem kleinen Spaziergang einlud, der vor ihrer Haustür endete.
Sie war freundlich und offen wie immer. Etwas aber war anders. Es war das erste Mal, dass ich sie etwas Negatives sagen hörte. Ich erzählte ihr stolz und glücklich, dass ich bald ein ähnliches Studium wie sie beginnen würde. Ich war im letzten Schuljahr und hatte den Studienplatz kurzfristig zugesprochen bekommen. Sie teilte meine Freude nicht. Mit einem melancholischen Lächeln, das mir fast mitleidig zu sein schien, meinte sie, ich solle auf mich aufpassen, sie hätte in ihrem Studium Enttäuschungen erlebt, die sie mir nicht wünschen würde.
Ich schenkte dem nicht viel Beachtung. Wir plauderten noch ein Weilchen, dann verabschiedeten wir uns herzlich. Ich winkte ihr noch ein letztes Mal zu, bevor sie die Haustür hinter sich verschloss.
Das war unsere letzte Begegnung. Am nächsten Morgen kam ich in die Schule und konnte einem Namen kein Gesicht zuordnen. Ihrem Namen.
Ich weiß nicht, welcher Mechanismus mich stundenlang daran hinderte, das Offensichtliche zu begreifen.
Sie musste gewusst haben, dass unser Spaziergang ihr letzter sein würde. Den letzten Weg aber ist sie allein gegangen.
Bis heute habe ich mit niemandem darüber gesprochen. Was hätte das auch gebracht? Wir waren keine Freunde. Ich wusste wenig von ihr. Es steht anderen zu, die Geschichte ihres Lebens zu erzählen.
Wir sind uns nur hin und wieder zufällig begegnet. Sie war eine Sanfte. Ich mochte sie.
© Hans-Jörg Große (2015)
"Die Sanfte" ist eine Erzählung aus meiner autobiographischen Sammlung "Streifschüsse".