Intelligenzija I

Zwischen den Jahren (Die gestohlene Sekunde)

Im „Denker-Stübchen“ fand man sich ein. Prof. Fjodor Nikolajewitsch Borschtsch, die verarmte Gräfin Gruschenka Warwara Allegrowa, und der stets finster dreinblickende frühere Revolutionär Valentin Akula (Der Hai) Schtscherbakow, ein pockennarbiger und mit einer prächtigen Zahnlücke ausgestatteter Mann mit Baskenmütze, die mit seinem wirren Haupthaar verwachsen zu sein schien.

Einmal im Quartal trafen diese drei Individuen aufeinander. Das ‘Denker-Stübchen’ befindet sich in Sankt Petersburg, unweit der Bar „Fidel“, auf der Straße Dumskaja, nahe der Metrostation Gostiny Dwor.

Es hatte sich so entwickelt. Einer der 3 spult einen langen Monolog ab, die anderen schweigen, trinken, hören zu. Der Redner wechselt jeweils. Ein Thema darf immer frei gewählt werden. Heute erhob Prof. Borschtsch das Wort.

„Ich, meine sehr geliebten Zeitgenossen und Angehörige der Intelligenzija, fühle mich leider bestohlen. Ja, ich spreche es offen aus. Vom Leben betrogen und bestohlen. Mein Kummer kreist um die gestohlene Sekunde. Ihr wisst es ja, die dummen Menschen hinterfragen nicht. Ich aber sorge mich auch um die Details. Da kommt also bald, in Kürze, der Jahreswechsel auf uns zu...“ Er wandte sich der Gräfin zu. „Und damit dann auch dein 60. Geburtstag, werte Freundin, den es exorbitant zu feiern gilt. So wir alle drei diesen Silvester-Tag 2020 noch erleben sollten.“ Zügig trank er zwei Schnäpse. „Im Angesicht der Stunde Null frage ich mich, Jahr für Jahr, wohin diese eine Sekunde nur verschwinden mag.

Ihr wisst schon. Die Uhr schlägt 12. Es ist Null Uhr am Silvesterabend 2020. Um 0:01 ist das neue Jahr angebrochen. Stimmt schon. Doch nun frage ich euch, Freunde, wo bleibt diese Sekunde? Wohin entschwand sie? Ich fühle mich um genau diese eine Sekunde schwer betrogen. Eben noch war es 23:59 Uhr, am 31.12.2020. Nun beobachten wir alle den Zeiger, wie er auf die 12 ruckelt. Und dann entsteht das Vakuum. Null Uhr? Existiert eigentlich gar nicht. Erst die Uhrzeit 0:01 ist zu erfassen, greifbar und nachvollziehbar. 0:01 am 1.1.2021.

Da ist diese eine Sekunde. Und die möchte ich zurück haben. Jetzt bin ich 66 Jahre alt. Mir wurden daher, das ist ja nur eine grobe Rechnung, Leute, diese unfassbaren 66 Sekunden gestohlen, von der Geburt bis zum heutigen Tag. Gestohlen. Ich bin gebeutelt worden vom Schicksal, und mein Los dauert mich so sehr." Weint plötzlich bitterlich. Fängt sich wieder. Trinkt zwei Schnäpse. "Ich kann dies nicht klaglos hinnehmen. Ich fordere Gerechtigkeit. Ich fordere Ersatz.

Ich fordere nun diese 66 Sekunden zurück. Die Schaltjahre sind nicht eingerechnet. Und ihr beiden wisst sehr genau, was in 66 Sekunden alles geschehen kann. Nicht nur der Geschlechtsverkehr kann in dieser Zeit durchgeführt werden, nein, auch ein gewichtiger Aktienkauf, eine Transaktion größter Wichtigkeit, es kann ein Besuch beim Bäcker erledigt werden oder beim Zigarrenhändler, wohl weniger beim Friseur oder bei der Maniküre. Mir fehlen diese 66 Sekunden. Sehr sogar. Ich spür´s über die Jahre immer heftiger. Es nagt an meiner Seele: Wo sind diese 66 Sekunden nur hin, meine Freunde? Ihr schert euch beide einen Dreck um meine innere Not. Ihr schüttet den Wodka in euch hinein, seht mich trunkenen Blickes an - und begreift nicht. Mein Leben wird mir gestohlen, meine Zeit, meine Sekunden.

Stellt euch doch bitteschön einmal vor, ich hätte einen Unfall gehabt. Man schafft mich ins Hospital. Und dort sagt dann der Chefarzt: "Schade, hätte er doch nur noch einige Sekunden länger durchgehalten... Dann hätte er gerettet werden können. Es fehlten nur rund 66 Sekunden..." Borschtsch blickte seine Freunde an.

"Das scheint euch nicht weiter zu tangieren, richtig? Ja, dann lasst uns das Thema für dieses Quartal ad acta legen und verstärkt dem Wodka zusprechen. Ordere eine weitere Runde, Valentin Akula, meines Wissens hast du die Rechnung dafür zu begleichen...“

Schtscherbakow sah den Professor finster an. Man mag sich gar nicht ausmalen, welch grauenvolles Gedankengut sich hier durch des trunkenen Mannes Wirrkopf Bahn zu brechen langsam anhub. Der Blick, wie sagt man so schön in Sankt Petersburg, sprach gewaltige Bände. Und wenn es ein Volk mit beeindruckenden Folianten gibt, dann doch wohl das russische.

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