Michael

Bild zeigt Anita Zöhrer
von Anita Zöhrer

Während sich viele Menschen, allen voran die Kinder, über die ersten Schneeflocken des Jahres freuen, blickt Michael verzagt in Richtung Himmel. Er fragt sich, womit er das nun wieder verdient habe. Schon seit Monaten hat er kein Dach mehr über dem Kopf. Keine Bleibe, in der er Unterschlupf finden könnte. Für den anbrechenden Winter reicht seine dünne, kaputte Kleidung nie und nimmer, um ihn die nächsten Wochen warm zu halten.

Michael hat auf ein Wunder gehofft. Darauf, dass in diesem Jahr der Winter, der Schnee und die niedrigen Temperaturen ausbleiben würden, doch genau das Gegenteil tritt ein. Keinen Tag dauert es, bis eine meterhohe Schneedecke die Stadt bedeckt. Wenige Tage später fallen die Temperaturen weit unter null Grad Celsius.

„Hätte jemand eine Jacke für mich?“ „Etwas Warmes zu essen, zu trinken?“ „Etwas Geld, damit ich nicht draußen schlafen muss?“

Die Notschlafstellen sind überfüllt. Verzweifelt fleht der junge Mann auf der Straße sitzend die vorbeikommenden Menschen an, doch es ist zwecklos. Die Leute ignorieren ihn. Hetzen an ihm vorbei, als wäre er Luft. Nicht eine Sekunde Aufmerksamkeit schenken sie ihm.
Diese Nacht wird er nicht überleben. Er wird erfrieren, findet er keine gute Seele, die sich seiner erbarmt, ihn wenigstens mit einer dicken Decke versorgt. Michael stellt sich darauf ein, zu sterben, denn niemand ist da, der ihn beachtet, geschweige denn, der ihm hilft.
Er sieht Menschen, alleine und in Gruppen, in die Kirche nicht weit entfernt von ihm gehen. Tränen der Traurigkeit und Wut laufen über seine kalte, bleiche Haut. Sie nennen sich Christen und leben es doch nicht. Halten sich für gläubig und der Nachfolge Jesu getreu, vergessen jedoch auf das Leid vor ihrer Haustür. Auf sein Leid.
Michael reibt seine roten Hände aneinander und haucht sie an. Der Tag neigt sich dem Ende zu und ebenso sein Leben. Er hängt nicht besonders daran. Nicht unter diesen Umständen. Lange Zeit hat er gehofft, dass wenigstens Gott sich seiner annehmen und ihn vor einem qualvollen Tode bewahren würde. Doch mittlerweile glaubt er noch nicht einmal mehr das. Nein, denn Gott liebt ihn nicht. Warum? Er hat keine Ahnung. Was er ihm so dermaßen Schlimmes angetan hat, dass es so weit kommen musste, weiß er nicht. Im Gegenteil. Sein Leben lang hat er sich bemüht, ein guter Mensch zu sein, und was ist der Dank? Nein, in Anbetracht dessen, was im vergangenen Jahr alles schief gelaufen ist, kann er ohne den geringsten Zweifel behaupten, Gott liebt ihn nicht. Vielleicht alle anderen Menschen auf dieser Welt, aber ihn nicht.
Und dabei hatte er einst so ein schönes und erfülltes Leben. Eine Familie. Freunde. Eine Arbeit, die ihm Spaß machte. Alles, was man braucht, um glücklich zu sein. Und dann, dann ist jene Nacht gekommen, in der das Schicksal ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht hat.

Noch heute hört er ihr Lachen. Ihre Stimmen. Wie sehr hat er sie geliebt. Wie sehr sich bemüht, sie in jener Nacht zu beschützen. Doch ist es vergebens gewesen. Der Einbrecher war nicht alleine in sein Haus eingedrungen. Hatte als Rückendeckung einen Komplizen bei sich gehabt. Doch woher hätte er das wissen sollen? Der Komplize war raffiniert gewesen, hielt sich so lange versteckt, bis seine Unterstützung benötigt wurde. Noch heute hört er den Schuss. Noch heute lässt er ihn erschrocken zusammenzucken. Noch heute spürt er den Schmerz, den die Kugel in seinem Rücken verursacht hat. Noch heute wünscht er sich, sie hätte ihn getötet. Seine Frau und sein älterer Sohn waren ja auch nicht verschont worden.
Sein jüngerer Sohn hatte Glück gehabt. Ihm war die Flucht gelungen. Damit war sein Glück aber auch schon wieder vorbei. Der Arme stand so sehr unter Schock, sodass er ein Auto übersehen hat und in dieses gelaufen ist. Weder seine Frau noch seine beiden Söhne hatten leiden müssen. Ein schwacher Trost.
Nie hat man die Täter gefasst. Nie hat Michael das Gefühl gehabt, die Polizei hätte sich wirklich um diesen Fall gekümmert. Nie hat er Unterstützung im Freundeskreis oder von seiner Verwandtschaft erfahren. So ist es ihm wenigstens vorgekommen. In Wahrheit jedoch haben alle miteinander ihr Bestes gegeben. Die Polizei, um die Täter ausfindig zu machen. Seine Verwandten, um ihn durch die schwere Zeit zu tragen. Doch hat das Trauma seine Wahrnehmung völlig auf den Kopf gestellt, ihm Dinge vorgegaukelt, die einfach nicht der Realität entsprochen haben. Nach dem seelischen Absturz kam der der Verlust der Arbeit, das Ende seines ganzen Lebens. Er hat sich auch nicht helfen lassen wollen. Schuldgefühle sind es letztendlich gewesen, die ihn in immer größere Schwierigkeiten gebracht haben, und so ist er auf der Straße gelandet.
Dass er seine Familie nicht vor diesem grausamen Unglück bewahren hatte können, macht ihm schwer zu schaffen. Nicht länger kann er die Erinnerungen daran ertragen. Er reißt einem vorbeikommenden, alten Mann den Gehstock aus der Hand und schlägt damit das Schaufenster eines Juweliers ein. Der schrille Lärm der Alarmanlage ertönt, doch hindert er Michael nicht daran, die Vitrine mit dem Schmuck kurz und klein zu schlagen.
„Hören Sie auf!“
Mit einer Pistole bewaffnet eilt der Besitzer des Geschäfts aus dem Nebenraum herbei und bedroht Michael damit. Dieser lässt sich davon jedoch nicht beeindrucken, bemerkt weder den Besitzer noch die Gefahr, in der er sich nun befindet.

„Hören Sie sofort auf damit!“
Der Juwelier kennt keine Gnade. Viel zu oft hat man ihn bereits überfallen, viel zu oft ist er dem Tod nur knapp entronnen. Ein lauter Knall. Die Passantinnen und Passanten bleiben stehen. Die Welt scheint den Atem anzuhalten. Die Kugel hat ihr Ziel nicht verfehlt. Und dabei ist es gar nicht die Absicht des Juweliers gewesen. Nur einen Schrecken hat er dem Vandalen einjagen wollen, ihn vielleicht verletzen, aber was nun geschehen ist, schockiert selbst ihn.

Mitten ins Herz hat die Kugel Michael getroffen. Seine größte Sehnsucht – Gott erfüllt sie ihm nun. Ein Mann kommt zu ihm gelaufen. Michael fällt leblos zu Boden. Seine Augen geschlossen. All sein Leid, all seine Verzweiflung, all seine Einsamkeit, alles ist nun zu Ende. Es ist vorbei.

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