Sehnsucht nach der Ferne und andere Träume

Bild von Fernand Muller-Hornick
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Eine Ansichtskarte aus Blankenberge: zweigeteilt: Ein großes Hotel, das Meer, genauer: la plage. Mit vielen Grüßen von Herr und Frau Schmidt, das Wetter ist schön, das Essen gut.
Pah, sagt die Mutter, die wollen nur angeben, betrachtet die Karte lange, als wenn es darauf so viel zu entdecken gebe.
Kommentar des Vaters: Die Schmidt müssen ja im Geld schwimmen. Aber der Schmidt arbeitet ja auch bei der Gemeinde, solche Herren können sich das leisten.
Der Sohn möchte auch einmal nach Blankenberge, das Meer sehen und alles.
Vater: ablehnend: Kommt nicht in die Tüte, mit was sollen wir das gefälligst bezahlen. Du hast doch keine Ahnung, was eine Reise dorthin kostet.
Mutter zum Sohn: Du brauchst noch unbedingt eine neue Hose für den Winter. Oder möchtest du dir den Arsch erfrieren? Na also!
Natürlich möchte sich der Sohn nicht den Arsch abfrieren im bitterkalten Winter, und auch sonst nicht.
Vielleicht gehen wir ins Kino, schlägt Mutter vor. Im Eldorado wird ein schöner Film gespielt: Der Förster vom Silberwald. Allein schon der Name erweckt Sehnsüchte. Silberwald, das Wort muss man ganz langsam aussprechen, man muss es auf der Zunge zergehen lassen wie Honig: Siiiiilllllbbbbbeeeeerrrrrwwwwwaaaaalllllddddd.
Und dann auch noch der Rudolf Lenz. Mutter bekommt feuchte Augen und feuchte Hände und rote Wangen, sie atmet plötzlich schneller, wenn sie an den Rudolf Lenz denkt. Wenn ich einen solchen Mann hätte heiraten können, seufzt Mutter.
Antwort des Vaters: Konntest du aber nicht. Und wer weiß, was dieser Filmheini alles auf dem Kerbholz hat. Weibergeschichten, da bin ich mir ganz sicher. Trotzdem geht Vater mit ins Eldorado. Der Sohn natürlich auch. Wir sind eine glückliche Familie, wir machen alles stets zusammen. Man gönnt sich ja auch sonst nichts, sagt Mutter, etwas Spaß braucht ein jeder Mensch.
Mutter gönnt sich alle vierzehn Tage etwas Spaß. Der Sohn muss am Spaß der Mutter teilhaben. Kino ist doch etwas Schönes, man kann dabei ausschalten, die Sorgen verdrängen, für zwei Stunden ein anderer, glücklicherer Mensch sein.
Der Sohn kennt schon bald alle Filme, ob sie schön sind oder nicht.
Ich denke oft an Piroschka. Zum Beispiel.
Der Sohn denkt an die Schule, daran, dass der Traum von unbeschwerten Leben allerhöchstens zwei Stunden dauert und beim einschalten der Beleuchtung im Saal zerstört wird. Der Sohn hasst die Wirklichkeit. Im Kino kann man in eine Welt hinein tauchen, die einen alles vergessen lässt: die Schule mit ihrem tobenden Lehrer, die Hänseleien und Schläge durch die Schulkameraden, die Prügel der Mutter, das Schweigen des Vaters zu allem. Eines Tages wird er sich eine eigene Welt erschaffen, er wird es ihnen zeigen, den täglichen Degradierungsritualen und falschen Bezichtigungen im Elternhaus und in der Schule ein Ende bereiten. Er wird ihnen allen, den Verspottenden, den Hänselnden, den sich unter dem Deckmantel der Pädagogen versteckenden, brutalen Schlägern zeigen, was Fantasie ist, wer denn überhaupt über Fantasie verfügt, er oder sie.
Die Heimatfilme ermöglichen dem Sohn, in eine andere Welt einzutauchen, eine heile, bisher unbekannte Welt, in der die Harmonie stets Oberhand hat, wo sich alle Probleme zum Ende hin auflösen.
Mutters Herz berührende Filme:
Sissi, mit Romy Schneider, wunderschön, graziös, und Karlheinz Böhm, der Traummann einer jeden Frau, Mutter hockt wie gebannt im Kinosessel, schade, dass man ihre roten Wangen nicht sehen kann. Mutter muss sich den Film gleich zweimal anschauen, so viel Romantik kann man nicht auf einmal verdauen, egal was es kostet, der Film ist wunderschön.
Sissi, diesmal, nach der jungen Kaiserin, ebenfalls zutiefst bewegend, mit den Schicksalsjahren einer Kaiserin mehr als nur zu Tränen rührend. Mutter schnäuzt mindestens fünf Taschentücher voll, der ganze Kinosaal heult und flennt, alles Weiber, sie veranstalten ein richtiges Heulkonzert, man kann vor lauter Schluchzen nichts mehr verstehen, da hilft auch kein "Pst" und kein "Ruhe, verdammt nochmal" von Seiten der mit in den Saal geschleiften Männer.
Völlige Enthemmung der bisher noch teilweise unterdrückten Emotionen in dem Augenblick, wo Sissis kleine Tochter auf ihre Mutter zu rennt, umarmt und das italienische Volk "Viva la Mamma" ruft. So viel Herzschmerz hält keine Mutterseele aus, da muss man flennen und schluchzen und heulen und sich die Frage stellen, ob der Sohn dies auch tun würde. Natürlich würde er das nicht, nicht einmal im Film würde er das machen, wenn er die Tochter von der Sissi wäre, da ist sich Mutter ganz sicher. Der Sohn ist eben undankbar, er weiß nicht, was seine Mutter alles für ihn tut, hat er Ohrenschmerzen, Mittelohrentzündung, um genau zu sein, kocht seine Mutter Kartoffeln, presst diese zu Püree, wickelt dies in ein weißes Leinentuch, legt es dem Sohn aufs Ohr, sitzt neben ihm am Bett, stundenlang, und was ist der Dank? Wenn er seine Mutter wenigstens einmal umarmen würde, sie würde sofort in die Stadt in die Kathedrale fahren und vor der heiligen Mutter Gottes, gegrüssetseistduemariavolldergnaden, eine gesegnete Kerze anzünden. Aber der Sohn ist eben undankbar, gut, dass es diese wunderschönen Filme gibt, da kann Mutter wenigstens das ganze Elend vergessen.
Ebenfalls zutiefst berührend: Das Dreimäderlhaus mit dem Kaiser Franz Joseph, nein, nicht der Kaiser spielt mit, aber der, der den Kaiser gespielt hat, der Karl Heinz Böhm, diesmal spielt er diesen, wie heißt er noch, Schubert, ja Franz mit Vornamen, das ist doch der, der das Volkslied "Am Brunnen vor dem Tore" komponiert hat, genau, ein Volksmusiker, ein bisschen verrückt, dieser Schubert, glaube ich, ein Alkoholiker soll er gewesen sein. Egal, trotzdem schön, wie der Böhm das spielt, und dann die Maria Schneider, das ist die Mama von der Romy Schneider, die die Sissi gespielt hat, und der Gustav Knuth, alles berühmte Schauspieler, die muss man gesehen haben.
Mutters Lieblingsfilme: So weit die Erinnerung reicht:
Kaiserjäger.Die Sennerin von St. Kathrein. Die Fischerin vom Bodensee. Wo der Wildbach rauscht. Die Geierwally. Försterliesl. Grün ist die Heide. Wenn die Heide blüht. Solange noch die Rosen blühn. Der Jäger von Fall. Wetterleuchten um Maria. Und ewig singen die Wälder. Wenn die Glocken hell erklingen. Via Mala.
Ebenfalls schön: Tralalafilme: Originalzitat Vater. Aber weniger beliebt, nur einmal angesehen: Ein Herz voll Musik, mit Vico Torriani. Ein Italiener, oder wie? Aber es sind ja auch nicht alle Spaghettifresser Messerstecher und Frauenvergewaltiger. Es gibt auch zivilisierte Spaghettifresser, wie Vico Torriani.
Bonjour Kathrin, mit Catharina Valente und Peter Alexander. Wunderschön, zum schmelzen schön: Steig in das Traumboot der Liebe, fahre mit mir nach Hawaii, dort auf der Insel der Schönheit, wartet das Glück auf uns zwei, von Catharina Valente gesungen. Und schon wieder der Aufruf, nach Italien ans blaue Meer zu fahren, wo am Tag die Sonne scheint und abends der Mond. Als wenn die Sonne nur in Italien tagsüber scheinen würde. Hier kann man den Mond auch abends bewundern, wenn man möchte, aber wer will das schon, in der Nacht draussen vor der Tür den Mond bestaunen, und bevor man sich umgeschaut hat, steckt einem ein Messer im Rücken. Nein nein, dieser Silvio Francesco und die Valente und der lustige Peter Alexander brauchen bestimmt keine Angst zu haben vor den Messerstechern, schließlich sind sie berühmt, da traut sich kein Mafiosi, die zu erdolchen, aber unsereins, die wollen uns doch nur nach Italien locken, um uns auszurauben, man hört ja einiges, in Italien wohnt nicht nur der Papst, da hausen auch die Taschendiebe, und schlimmer, diese, wie heißen sie noch, die den unschuldigen Frauen, besser, den jungfräulichen Mädchen den Kopf verdrehen mit amore und so, verdammt, wie heißen die denn noch, Papagalli oder so ähnlich, du weißt schon, was ich meine, aber trotzdem ein schönes Lied. Unsereins muss ja nicht nach Italien, nur, um daheim anzugeben, was glaubst du, was das kostet, und die lange Zugfahrt, man hat ja kein Auto, nene, man will ja nicht als Leiche mit aufgeschlitztem Bauch oder völlig ausgeraubt zurückkommen. Da tut man besser, sich den Film noch einmal anzuschauen und davon zu träumen, wie schön es in Italien ohne diese Italiener wäre.
Sehr wichtig: Weißer Holunder.
Da spielt eine Luxemburgerin mit. Richtig gelesen: eine Luxemburgerin. Die heißt Germaine Damar. Da muss man doch einfach in den Kinosaal, allein schon aus Patriotismus. Vive Germaine! Nein, das ist nicht der erste Film von Germaine, wo denkt der Sohn hin. Aber vorher war er noch zu klein, um mit ins Kino gehen zu können. Dann lag er brav schlummernd in seinem Bettchen, während Mama und Papa sich im Kino einen schönen Film anschauten. Es wird dem Sohn ja hoffentlich nichts passieren, dass zum Beispiel Feuer ausbricht, oder ein Einbrecher kommt. Feuer wäre weitaus schlimmer, wer sollte schon in so ein kleines Haus einbrechen, da gibt es nicht viel auszurauben. Mutter kann die Filme nicht richtig genießen, sitzt wie auf heißen Kohlen, der Hintern fängt an zu glühen, Brandblasen werden sich bilden, ihr den Genuss des Films verderben, wenn dem Sohn etwas passiert, heißt es, die Filme hätten Vorrang gehabt, aber man darf nicht zu sehr schwarz sehen und denken, dem Sohn wird schon nichts passieren.
Wunschkonzert. Die Drei von der Tankstelle. Symphonie in Gold. Mädchen mit schwachem Gedächtnis. Alle mit Germaine Damar. Noch einmal: Vive Germaine! Möge sie hundert Jahre alt werden und hundert und mehr Filme drehen.
Ebenfalls schöne Filme mit Tralala: Wenn die Conny mit dem Peter. Gitarren klingen leise durch die Nacht. Mandolinen und Mondschein. Freddy, die Gitarre und das Meer. Wir wollen niemals auseinandergehen.
Mehr als nur komisch, zum Brüllen komisch: der Peter Alexander im weißen Rößl. So lustig kann das Leben sein, wenn man in Österreich lebt. Mutter möchte sich den Film am liebsten zweimal ansehen. Nein, nicht hintereinander, einmal am Sonntag um vierzehn Uhr, und am darauffolgenden Sonntag wieder um vierzehn Uhr. Um sechzehn Uhr wäre ja auch schön, dann bräuchte man sich vorher nicht so beeilen mit dem Sonntagsbraten, der Punkt zwölf Uhr auf dem Tisch stehen möchte. Wenn man um erst um sechzehn Uhr ins Kino geht, und die Vorstellung bekanntlich zwei Stunden dauert, ist es bereits achtzehn Uhr. Dann mit dem Bus nach Hause, dreißig Minuten, hängt vom Verkehr ab, unmöglich, dass man dann um achtzehn Uhr dreißig in der Abendandacht sein kann. Und die geht natürlich vor dem Vergnügen. Der Herr Pfarrer sieht nämlich ganz genau, wer von seinen Schäfchen in der Bank sitzt und wer nicht. Wenn er auch nichts sagt, der merkt sich, wer ein kalter Christ ist und wer nicht. Und die Nachbarn sehen es natürlich auch, tuscheln hinter vorgehaltener Hand, man ziehe das Vergnügen und die Unterhaltung der Religion vor. Und wer möchte schon der Gleichgültigkeit gegenüber dem Glauben bezichtigt werden? Na also. Vergnügen von vierzehn bis sechzehn Uhr. Erfüllung der religiösen Pflicht von achtzehn Uhr dreißig bis neunzehn Uhr fünfzehn. Dazwischen: stricken oder häkeln, oder auch nur ein bisschen dösen, die "Fröhliche Welle" hören. "Zwei kleine Italiener", schon wieder diese Italiener, die tauchen aber auch überall auf, was man so hört, von Napoli, der Mafia, Mord und Totschlag, unsereins kann ja froh sein, damit nichts zu tun zu haben, aber die Conny Froebess singt wunderschön. Sehnsüchte kommen auf, aber unsereins kann ja nur von Capri und der roten Sonne im Meer träumen, warum ist man nicht in Italien geboren, das Leben ist oft ungerecht. Und dann dieser Freddy Quinn, und wieder Sehnsüchte, wie nach dem weißen Schiff, das nach Hongkong fährt.
Verboten: Filme mit René Deltgen! I git! Pfui! Filme von diesem Landesverräter anschauen: Nie und nimmer. Der Blitz soll einen treffen, oder der Zorn Gottes, wenn man sich auch nur einen der Filme von ihm anschaut, mag der "Tiger von Eschnapur" und das "Indische Grabtuch" noch so schön sein, man kann es ja nicht beurteilen, weil man den Film nicht sehen will, unsereins setzt keinen Fuß in den Kinosaal, mag der Deltgen doch bei seinen preußischen Nazifreunden bleiben.
Was noch der Unterhaltung und Entspannung für die Mutter dient:
Das neue Blatt. Eine interessante Zeitung. Leider kann Mutter nur alle paar Monate drin blättern, beim Friseur, Dauerwellen kosten ja ein Heidengeld, unsereins ist ja keine Dame aus der Stadt, die laufen jede Woche zum Friseur. Geldverschwendung, gut, dass man nicht in der Stadt wohnt.

Auszug aus einem in Arbeit befindlichen Roman über eine Kindheit in Luxemburg in den 1950-1960er Jahren. Titel des Romans: Kokosnüsse und Waldeslust

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