Off-Kasperle

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Das letzte „Auf Wiedersehen, Kinder“ ging im ohrenbetäubenden Applaus und Fußgetrampel des Publikums unter. Kasperle und sein Kompagnon – ein niedlicher Teddy namens Petz (er bevorzugte allerdings die Koseform Pezi) – standen auf der Bühne und blickten in die tobende Menge. Der kleine Bär lächelte ein Lächeln, das dem vertrauten und aufmerksamen Beobachter als eigentliche Bedeutung „Bitte, erschieß mich!“ vermittelte. Endlich fiel der Vorhang.
„Lange mache ich das nicht mehr mit, das sage ich dir…“ murmelte Pezi auf dem Weg in die Garderobe.
„Reg dich nicht auf, mir geht das ganze auch schon auf die Nerven – aber dem Publikum gefällts, und wir haben eine gewisse erzieherische Funktion, steht im Vertrag…“, bemühte Kasperle ein Argument, an das er selbst seit einiger Zeit nicht mehr so recht glauben wollte.
„‚Erzieherische Funktion‘, bei dem Programm?“ nahm Pezi den Ball auf. „Der Drache beißt den bösen Zauberer in den Hintern?“
„Das hatten wir doch schon hundertmal! Das sind die subtil humorigen Einsprengsel, die das erzieherische Moment etwas auflockern sollen…“ agierte Kasperle zunehmend hilfloser.
„Hör mir bitte auf mit subtil humorigen Einsprengseln! Hast du eine Ahnung, wie intensiv ich mich für jedes einzelne dieser subtil humorigen Einsprengsel schäme?“ Pezi redete sich in Fahrt. „Dieses Publikum ist nichts weiter als ein Haufen proletoider, schenkelklopfender, reaktionärer Trottel. Die erkennen subtilen Humor noch nicht einmal dann, wenn er direkt vor ihnen steht und ihnen ins Gesicht spuckt! Und wenn sie weiter in dieser Verdummungsmaschinerie, die sich Puppentheater nennt, sitzen, wird das auch in hundert Jahren nichts mehr!“
„Pezi, bitte!“ wehrte Kasperle müde ab. „Denselben Dialog führen wir pro Woche zwei bis drei Mal.“
„Ich sage ja nur, es muss sich was ändern! Und zwar bald!“ Pezis Stimme hatte einen drohenden Unterton angenommen, als sie die Garderobe erreichten.

Erster Teil

Der Bär stieß die Tür einen Hauch zu kräftig auf. „So! Jetzt schau Dich hier einmal um. Was siehst Du?“ wandte sich Pezi an seinen Kollegen und vollführte eine ausladende Handbewegung. Der Anblick konnte den Betrachter tatsächlich trübsinnig stimmen. An dem Tisch in der Mitte der Garderobe saßen ein Drache, den Kopf phlegmatisch auf die Klaue gestützt, ein Polizist nebst Keule, der dazugehörige Räuber, eine Prinzessin, eine silberhaarige alte Frau sowie ein etwas diabolisch dreinblickender grüngesichtiger Zauberer. Die Stimmung schwankte zwischen Lethargie und Trägheit.
„Geht das schon wieder los mit euch beiden?“ fragte der Polizist mehr genervt als interessiert. „Eure Dialoge kann man schön langsam blind mitsprechen.“
„Wobei, recht hat er ja irgendwie schon“, ließ sich der Zauberer vernehmen. „Die Subtilität im Zusammenhang mit dem Umstand, dass sich Drachenzähne in meinen Allerwertesten eingraben, hat sich mir noch nicht vollständig erschlossen. Wenigstens hat es sich heute einmal auf den ersten Akt beschränkt.“
„Glaubst du, mir bereitet das Vergnügen?“ gab der Drache gereizt zurück. „Ich bin vollkommen bei dem kleinen Bären. Obwohl ich gestehen muss, dass Drachenzähne in einem Bärenhintern…“ kippte der Drache spontan in sein instinktives Verhaltensmuster zurück.
„Halt den Mund!“ rief das Kollektiv.
„Bitte um Beruhigung!“ startete Pezi einen Beschwichtigungsversuch. „Wir sind uns darin einig, dass das kein Zustand ist, sowie weiters, dass irgendwas passieren muss. Hat jemand eine Idee?“ Schweigen. Die Ratlosigkeit war mit Händen zu greifen. Jede Figur war sich der Tatsache bewusst, dass die Ausschau nach anderen Bühnen nicht wirklich in Frage kam. Das Rollenangebot etwa für einen grüngesichtigen Zauberer unterlag an einem Theater von Rang mit Strindberg oder Ibsen im Programm recht drastischen Einschränkungen. Im Grunde konnten sie froh sein, auf eine Möglichkeit, wie sie sich in diesem Forum bot zurückgreifen zu können, wollten sie die Mittellosigkeit vermeiden. Das wussten sie, und – schlimmer – das wusste auch der Theaterdirektor. Als die Figuren sich vor Jahren beim Puppentheater bewarben, hatte dieser ihnen einen regelrechten Knebelvertrag aufgenötigt, der ihren Handlungsspielraum hinsichtlich eigenständiger künstlerischer Entfaltung massiv einschränkte. Ein Wechsel an eine andere Puppenbühne kam ebensowenig in Frage, da die vertraglichen Bedingungen an allen derartigen Spielstätten vergleichbar waren. Die Figuren waren sich einig: es bedurfte einer gut durchdachten Aktion.
„Hmmm… Wenn wir schon nicht ans normale Theater können, warum bringen wir das normale Theater nicht hierher?“ meldete sich die Prinzessin zaghaft.
„Könntest Du das vielleicht näher erläutern?“ fragte Kasperle mit hochgezogenen Augenbrauen (seine Augenbrauen waren eigentlich permanent hochgezogen, weil der Puppenmaler es sich so eingebildet hatte – im Moment passte es aber recht gut zur Situation).
„Wer hindert uns daran, uns ein Stück zu suchen und selbst einzustudieren?“ erläuterte die Prinzessin.
„Hallo? Unser Vertrag?“ wandte Kasperle etwas erstaunt ein.
„Steht wo? Unser Vertrag besagt lediglich, dass wir keine Stücke spielen dürfen, die nicht für diese Theaterform konzipiert worden sind. Wenn wir jetzt jemanden finden, der irgendeinen Klassiker so umschreibt, dass er auf das Puppentheater passt, aber immer noch erkennbar ist, sollte das im Grunde vertragskonform sein.“ Die Prinzessin gewann mit jedem Wort an Selbstvertrauen. Kasperle blickte leicht zweifelnd.
„Und wer soll dieser Jemand sein?“
„Ich könnte es machen.“ Alle drehten sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und sahen in der Ecke auf einem kleinen Holzstuhl einen leicht zerzausten kleinen Stofflöwen sitzen.
„Du?“ Die übrigen Figuren sahen erst einander, dann den Löwen an. Pezi war der erste, der sich wieder fing.
„Du bist mir hier noch nie aufgefallen…“
„Ich bin auch noch nicht allzu lange hier. Ich habe erst einem Dramaturgen gehört, dessen Freundin irgendwann meinte, er sei doch ein erwachsener Mensch und solle um Gottes willen diesen Stofflöwen endlich entsorgen. Er gab mich auf den Flohmarkt, wo mich eine von Euren Kostümbildnerinnen mitnahm und hierher brachte. Jedenfalls habe ich, als ich noch beim Dramaturgen war, im Wesentlichen auf seinem Schreibtisch gewohnt und ihm bei der Arbeit zugesehen, später auch mit ihm diverse alternative Handlungsstränge diskutiert.“
„Hattest du dabei eine schwarze Nickelbrille auf und einen Rollkragenpullover an?“ wollte die Prinzessin wissen, setzte jedoch sofort ein „‘Tschuldigung“ nach als sie den bohrenden Blick des Löwen bemerkte.
„Ich finde, ein Versuch kostet nichts“, meldete sich der Zauberer. „Wäre jedenfalls einmal was Neues. Und variatio delectat, sagt man.“
„Und wenn man’s sagt, wird’s schon stimmen… Außerdem – unsere Alternativen sind nicht unbedingt zahlreich…“ dachte Pezi nach. „Wer dafür ist, hebt die Hand, Klaue, was auch immer!“ Alle vorderen Extremitäten reckten sich in die Höhe.
„Sehr gut“, registrierte Pezi zufrieden, „dann stehen wir vor der alles entscheidenden

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