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die Möglichkeit des kubanischen Exils der Amme und der revolutionär-politischen Ansatzpunkte, die sich daraus zwangsläufig für nachfolgende Stücke ergaben, hatte der Löwe den Theaterdirektor schlussendlich in der Tasche. Die Plakate und Prospekte, die die Vorstellung anpriesen, sprachen von einer ungeheuren Innovation. Um den Theatedirektor zu beruhigen, war der Löwe bemüht gewesen, die Eignung des Stoffes für das hauptsächliche Publikum der Puppenbühne herauszustreichen. Unter einem Foto von Kasperle und der Prinzessin stand in großen Lettern: „WELTPREMIERE! Große Literatur für die kleine Bühne. Klassiker kindgerecht aufbereitet. Dieses Mal: OTHELLO – die Geschichte um Liebe und Eifersucht, kindgerecht aufbereitet. So gut wie keine Todesfälle! Die Handlung: Ein Edelmann verdächtigt seine Frau, einen anderen zu lieben. Es kommt zum Konflikt, der (kindgerecht aufbereitet) gelöst wird. Abonnements A, B, und E.“
Die Figuren hatten sich mit anfangs noch vorsichtigem Optimismus in die Probenarbeiten gestürzt. Unter der umsichtigen Führung des Löwen war ihre Begeisterung aber stetig gewachsen; vor allem der Drache hatte sich einem intensiven Studium seiner Rolle hingegeben und die Premiere kaum erwarten können. Auch beim Rest des Ensembles war die Nervosität in den letzten Tagen vor der Stunde Null merklich angestiegen. Jeder ging anders mit der Aufregung um: während der Drache in der Garderobe auf und ab trottete und unentwegt seinen Text vor sich hin murmelte, bevorzugte etwa der Zauberer eine dynamischere Herangehensweise und drosch die meiste Zeit auf einen Sandsack ein, den er dem Theaterdirektor mit dem Hinweis auf die unbedingte Notwendigkeit zur profunden Vorbereitung auf seine Rolle aus dem Kreuz geleiert hatte. Und nun war der Zeitpunkt endlich gekommen. In der Garderobe war die Spannung auf dem Höhepunkt, als sich der Vorhang öffnete und Pezi und die Prinzessin vulgo Cassio und Desdemona auf die Bühne traten. Wie reagierte das Publikum? Wie es schien, verfolgten Kinder und Eltern gebannt die ihnen dargebotene Geschichte. Der Löwe entspannte sich sichtlich und lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln zurück. Es funktionierte! Kindern war die Beschäftigung mit einem Klassiker der Weltliteratur also doch durchaus zuzumuten. Quod erat demonstrandum. Erwartungsvoll schlich der Löwe in eine Nische nahe der Bühne, als Pezi und die Prinzessin hinter die Bühne kamen und Kasperle alias Othello seinen ersten Auftritt hatte.
„Was spielt sich denn hier ab?“ deklamierte Othello, „ Ich sehe mein geliebtes Weib im Gespräch mit meinem treuen Gefährten! Jetzt passt alles zusammen! Das Taschentuch, welches Jago mir gab, das eigenartige Verhalten der beiden… Er hatte also recht! So will ich die Szenerie nicht hinterfragen, wie es ein vernunftbegabtes Wesen eigentlich tun würde, sondern einen im Grunde irrationalen Hass entwickeln und mich ausschließlich von meinen Emotionen leiten lassen! Mit diesem Messer…“ Kasperle blickte ins Publikum und sah die mit einem Mal schreckensgeweiteten Augen der Kinder und der sie begleitenden Erziehungsberechtigten. Er schaltete blitzschnell. „Mit diesem Messer wollte ich den Kuchen essen, von dem ich ausging, dass ihn Desdemona für mich gebacken hat. Doch nun muss ich erkennen, dass der Kuchen nicht für mich bestimmt war, sondern für diesen Schuft, der sich einst mein treuer Gefährte nannte! Da kommt Jago, ihm will ich meine Erkenntnis offenbaren!“ Der Löwe in seiner Nische erbleichte. Kuchen? Kuchen?! Das durfte nicht wahr sein! Was bildete sich dieser Hanswurst ein?
Verstohlen zur Seite blickend, schlich der Zauberer auf die Bühne. „Nun, mein Herr, konntest Du inzwischen nähere Informationen über die Herkunft des Taschentuchs gewinnen?“ fing er an.
„Gewiss, mein Freund“, entgegnete Othello inbrünstig, „doch komm näher zu mir, was ich Dir nun sagen werde, ist nicht für die Ohren aller bestimmt!“ Der Zauberer, durch die nicht vorgesehene Improvisation überrumpelt, trat unsicher einen Schritt auf Kasperle zu. Der Harlekin packte ihn bei den Schultern und zog ihn dicht zu sich heran. „Wir brechen ein! Die Leute verstehen die Welt nicht mehr!“ flüsterte er.
„Sch…! Also doch! Was sollen wir machen?“ fragte der Zauberer unruhig.
„Wir improvisieren. Spiel um Himmels willen mit und sei kreativ, ich gebe den anderen Bescheid wenn ich nach hinten gehe!“ Kasperle wandte sich zum Publikum. „Nun, mein Getreuer, du hast recht behalten. Der Kuchen war nicht für mich gedacht! Ich bin mit meinen Nerven am Ende, werde mich zurückziehen und mein Schicksal beklagen.“ Überzeugend den in seinen Gefühlen Verletzten spielend, ging Kasperle ab. Der Zauberer blieb auf der Bühne und fixierte das Publikum. „So“, nahm er den Faden wieder auf, „Othello ist weg und macht sich sicherlich Gedanken über einen gewissen Kuchen. Und wisst ihr, was das heißt, Kinder?“
„Nein!“ erwiderte das Publikum mit spürbarer Erleichterung.
„Das heißt, dass Othello sich bei Desdemona beschweren wird, warum sie für ihn keinen Kuchen gebacken hat und Desdemona Othello daraufhin fürchterlich schimpfen wird. Und das wiederum heißt, dass Desdemona den nächsten Kuchen, den sie eigentlich für Othello backen wollte, mir schenken wird weil sie böse auf Othello ist. Und ich mag Kuchen doch so furchtbar gerne – vor allem wenn ich ihn habe und Othello nicht!“
„Buh!“ kam postwendend die Replik aus dem Publikum.
„Schreit ihr nur, Kinder – zu meinem Kuchen komme ich trotzdem. Und ihr könnt nichts dagegen machen, hihi!“ Die gelben Augen Jagos funkelten gefährlich, als er die Bühne verließ.
In der Zwischenzeit herrschte Aufregung in der Gaderobe. „Was heißt ‚ die Leute verstehen die Welt nicht mehr‘?“ wollte Pezi wissen.
„Genau das!“ flüsterte Kasperle hektisch, „wenn wir so weiterspielen wie geplant, wird das ein beispielloses Fiasko!“
„Aber bis eben lief doch alles hervorragend!“ wandte der Bär ein.
„Er hat recht“, pflichtete der eben von der Bühne kommende Zauberer Kasperle bei, „ihr hättet die Gesichter sehen sollen als Kasperle mit dem Messer dastand!“
„Und jetzt?“ schaltete sich die Prinzessin besorgt ein, deren Auftritt an der Reihe war.
„Der Zauberer und ich haben angefangen, zu improvisieren – dass Desdemona einen Kuchen für Cassio gebacken hätte und Othello nichts davon abgeben will.“
„Hmmm… Das sollte aber gehen, Kuchen schlägt immer ein“, überlegte die Prinzessin, „Und wir bleiben im Rahmen und bewahren unsere Würde. Es ist immerhin Othello. Othello mit Kuchen!“
„Othello mit Kuchen…“ zweifelte Pezi, „hmm… Könnte aber tatsächlich was werden, Kuchen hat öfters Konfliktpotential.“
„Genau! Und im Stehgreif waren wir doch immer gut!“ beschwörte Kasperle die übrigen Figuren, „gehen wir es an!“
Es folgte ein resoluter Auftritt der Prinzessin, die sich in ihrer Rolle als Desdemona sichtlich pudelwohl fühlte. Othello eilte ihr in sichtlicher Erzürnung nach. „Zum letzten Mal: hast du einen Kuchen gebacken, Desdemona?“ herrschte Othello Desdemona an.
„Zum letzten Mal: nein, habe ich nicht! Das bildest du dir, wie so vieles, nur ein. Ich weiß nicht, wie oft ich dir das noch erklären soll!“
„Erklär mir lieber, was du mit Cassio zu reden hattest! Bekommt er einen Kuchen und ich nicht? Etwa noch dazu einen mit Erdbeeren? Du weißt, wie gerne ich Erdbeerkuchen mag! Und was ist mit der Serviette?“
„Ich weiß nicht, welche Serviette du meinst. Und was ich mit Cassio zu reden hatte betrifft weder dich noch einen Erdbeerkuchen. Selbst die Kinder haben keine Ahnung wovon du sprichst!“ Desdemona wies in den Zuschauerraum. Die Kinder verfolgten die Diskussion mit atemloser Spannung. Kasperle fühlte, dass die Situation langsam in eine prekäre Richtung abzudriften drohte und suchte nach einer geeigneten Weiterführung, die Desdemona den Ernst der Lage klarmachen sollte, aber Messer und vergleichbare Accessoires außen vor ließ.
„Desdemona, ich warne dich!“ setzte er an, „Ich… ich… hole den Polizisten und der sperrt dich ein!“ riss Othello mit seiner gesammelten Bühnenerfahrung das Ruder noch herum. Gejohle im Zuschauerraum. Der Löwe verfolgte in der Nische entgeistert das Geschehen. „Um Gottes Willen! Messer! Messer!“ flüsterte er tonlos. Auf einmal schlenderte Cassio genüsslich kauend auf die Bühne.
„Aha! Also doch!“ rief Othello triumphierend.
„Also doch was?“ fragte Cassio ahnungslos.
„Tu nicht so scheinheilig! Desdemona hat einen Kuchen für dich gebacken, gib es zu! Ansonsten sperrt dich der Polizist ein!“ setzte Othello auf Altbewährtes. Das Publikum dankte es ihm mit frenetischem Fußgetrampel.
„Du siehst Gespenster! Jago hat mir den Kuchen gegeben, und zwar aus Dank weil ich auf seinen Goldfisch aufgepasst habe“, verteidigte sich Cassio. Der Löwe verfiel in seiner Nische wieder ein Stückchen mehr.
„Und das soll ich Dir glauben? Für wie dumm hältst Du mich eigentlich? Nicht einmal die Kinder nehmen Dir das ab!“ redete sich Othello in Rage.
„Othello, so beruhige dich doch“, startete Desdemona leicht entnervt einen Beschwichtigungsversuch.
„Schweig, sonst…“
„…kommt der Polizist und sperrt mich ein?“
„Genau! Nein! Warte… Au, verflucht!“ Othello drehte den Kopf und blickte in die treuherzigen Augen des Drachen, der gerade seine nadelspitzen Zähne in Othellos Kehrseite vergrub. Die Zuschauer waren vor Begeisterung kaum zu bremsen. „Wofür war das jetzt?“ Der Drache, noch in Othellos Hinterteil verbissen, murmelte etwas von Arm des Gesetzes und Gerechtigkeit, der Genüge getan werden müsse. Wenn sein planmäßiger großer Auftritt schon der Improvisation zum Opfer zu fallen drohte, spielte er das Spiel doch einfach mit und improvisierte seinerseits.
Cassio wandte sich an Othello und bemerkte zufrieden: „Strafe folgt auf dem Fuß! Ich habe dir doch gesagt, dass… Au, verflucht!“ Der Drache hatte umdisponiert und fungierte nun begeistert als Anhängsel Cassios. Die Improvisation begann ihm sichtlich Spaß zu machen. Othello grinste schadenfroh; das Lachen gefror ihm jedoch im Gesicht, als er sah, dass der Drache Cassio unvermittelt losließ und ihn gefährlich anfunkelte.
In dem Moment betrat Jago die Bühne. Der Drache fuhr herum und setzte zur nächsten Attacke an, als er den Polizisten hinter Jago bemerkte und mitten in der Bewegung stoppte. Erwartungsvolles Schweigen auf der Bühne und im Zuschauerraum. Der Polizist legte Jago öffentlichkeitswirksam Handschellen an und informierte ihn über seine Rechte. Jago sei der Kopf eines international agierenden Syndikats, das Kuchen illegal außer Landes schmuggelte. Deshalb habe er eine Intrige gesponnen, um Desdemona, Othello und Cassio gegeneinander auszuspielen und zu erreichen, dass Desdemona einen Kuchen für ihn buk. Mit einem „auf geht’s, du Gauner“ führte der Polizist Jago unter wütenden Buhrufen des Publikums ab.
Othello blickte zerknirscht zu Boden. „Dann war es doch wahr, und du hast gar keinen Kuchen für Cassio gebacken?“ wandte er sich verschämt an Desdemona.
„Ich würde doch niemals einen Kuchen für Cassio backen und dir nichts davon abgeben“, meinte Desdemona versöhnlich, „Aber zur Feier des Tages bekommt jetzt jeder von euch seinen Lieblingskuchen!“ Die Zuschauer reagierten mit spontanem Applaus. Othello, Cassio, Desdemona und der Drache wandten sich zum Zuschauerraum und verbeugten sich.
Epilog
Das letzte „Auf Wiedersehen, Kinder“ ging im ohrenbetäubenden Fußgetrampel des Publikums unter. Die Figuren standen auf der Bühne und blickten in die tobende Menge. Pezi lächelte ein Lächeln, aus dem Erleichterung und ein wenig Stolz sprachen. Endlich fiel der Vorhang.
„Das war brillant! Das war schlichtweg brillant!“ rief Pezi aufgeregt auf dem Weg in die Garderobe.
„Und die humorigen Einsprengsel! Habt ihr die humorigen Einsprengsel bemerkt?“ warf der Drache ein.
„Ich glaube es einfach nicht!“ vertrat der Stofflöwe den Figuren erbost den Weg. „Da mache ich mir die Mühe und sitze eine Nacht lang, um was halbwegs Vernünftiges auf die Beine zu stellen und was macht ihr? Bei der kleinsten Schwierigkeit knickt ihr ein und führt eine Schmierenkomödie auf, für die man sich genieren muss! Was ist bloß los mit Euch?“
Die Figuren blickten den Löwen verdutzt an. „Was hast du denn?“ fragte Pezi erstaunt, „wir haben ein Stück der Weltliteratur genommen und an die hier vorherrschenden Rahmenbedingungen angepasst.“
„Aber es ging doch wieder nur um Kuchen und Hinternbisse!“ echauffierte sich der Löwe.
„Aber Kuchen und Hinternbisse bei Othello! Das ist ganz starkes Theater, mit erzieherischem Moment und humorigen Einsprengseln!“
„Sagt mal, glaubt ihr euch eigentlich selbst was ihr da sagt? Ihr…“
„Meine Herren, herzlichen Glückwunsch! Das war ganz starkes Theater, mit erzieherischem Moment und humorigen Einsprengseln!“ ließ sich der plötzlich aus dem Hintergrund aufgetauchte Theaterdirektor vernehmen. „Und Ihnen“, wandte er sich an den Löwen, „bin ich sehr verbunden, dass Sie sich doch dazu entschlossen haben, das Stück in eine etwas… weniger blutrünstige und ein wenig realistischere Richtung zu lenken. Die ursprüngliche Handlung mit all den Leichen erschien mir doch etwas an den Haaren herbeigezogen. Es hat sich ausgezahlt wie man sieht!“
„Aber…!“ begehrte der Löwe verzweifelt auf.
„Sie müssen sich nicht rechtfertigen, mein Freund“, beschwichtigte der Theaterdirektor, „ich bin mit dem Ergebnis überaus zufrieden. Und daher würde ich Sie gerne um weitere Adaptionen für unsere Bühne bitten. Mir schwebt da beispielsweise etwas von Kafka vor. Wenn wir da dann noch ein gewisses erzieherisches Moment mit ein paar humorigen Einsprengseln einarbeiten, wird das mit Sicherheit ein Bombenerfolg!“ Sprach‘s und verschwand.
„‚Die Verwandlung‘ mit Kuchen und Hinternbissen… Warum eigentlich nicht?“ zuckte der Löwe resignierend die Achseln. „Der Drache als riesiges Insekt… Halt, wartet auf mich!“ rief er und eilte den Figuren Richtung Premierenfeier nach.