Off-Kasperle - Page 2

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von Gerhard Schönbeck

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Frage: welches Stück nehmen wir uns vor? Irgendwelche Ideen?“ Die Figuren sahen sich verlegen an.
„Vielleicht was von Kafka? ‚Die Verwandlung‘ als Bühnenstück…“ schlug die Prinzessin vor.
„Großer Gott, vielleicht lieber was noch trübsinnigeres? Es geht uns um die Neudefinition unseres Erziehungs- und Bildungsauftrags, wir wollen das Publikum nicht in den Selbstmord treiben!“ begehrte der Zauberer auf.
„Wenn ich etwas vorschlagen dürfte“, ließ sich der Stofflöwe aus der Ecke vernehmen, „ich würde etwas Hochdramatisches nehmen, was in Richtung Shakespeare. Das hat Biss und wir kommen zugleich dem von euch postulierten Erziehungsauftrag nach. Was haltet ihr zum Beispiel von Othello?“
Beklommenes Schweigen im Raum, als alle sich kurz an den wesentlichen Inhalt zu erinnern versuchten. Der Drache sprach schließlich aus, was der Rest dachte: „Überlebt da von den handelnden Personen eigentlich irgendwer?“
„Irrelevant. Wer auf den großen Wurf wartet, darf sich von solch kleinlichen Überlegungen nicht irritieren lassen“, dozierte der Stofflöwe, der immer mehr in Fahrt kam.
„‚Kleinliche Überlegungen‘? Darf ich zu bedenken geben, dass unser Publikum zur Hauptsache doch noch aus Kindern besteht? Da wäre dann zudem noch die Sache mit der Affäre zwischen Desdemona und Cassio“, warf der Drache ein.
„Grundgütiger, wenn ihr euch immer so lahm aufführt, kann ich verstehen, warum bei Euch nichts weitergeht!“ blaffte der Stofflöwe zurück. „Aber wenn es euch beruhigt, nehmen wir einfach ein paar Leichen heraus, und die Affäre können wir etwas leichter formulieren. Die grundsätzliche Botschaft lässt sich wohl auch so vermitteln.“
„Einen Versuch ist es jedenfalls wert, und ich persönlich finde es ziemlich spannend, muss ich sagen“, schaltete sich der Polizist ein. „Und die eine oder andere Leiche wird unser Publikum schon nicht übermäßig traumatisieren – schließlich wird in Märchen auch mitunter gewaltsam gestorben.“
„Folgender Vorschlag“, ergriff der Löwe das Wort, „ich konzipiere bis morgen abend einen Rohentwurf und dann reden wir über allfällige Änderungen, Besetzung et cetera. Könnt ihr damit leben?“ Die Figuren sahen einander an und nickten beifällig mit dem Kopf. Alle spürten, dass daraus etwas werden konnte.

Zweiter Teil

„Gut“, begann der Löwe, als sich am nächsten Abend alle wieder in der Garderobe versammelt hatten. „ich habe das Stück etwas gestrafft und mich auf den Konflikt zwischen Othello, Jago, Cassio und Desdemona konzentriert. Dadurch haben wir die Gelegenheit, die Figuren und ihre Beweggründe noch schärfer herauszuarbeiten und den Ursachen des Konflikts auf den Grund zu gehen.“
„Hä?“ gab der Polizist seinem Unverständnis Ausdruck.
„Auf Deutsch: das Stück wird kürzer und wir haben weniger Rollen.“ erläuterte Pezi.
„Einspruch! Was sollen dann die machen, die nicht mitspielen?“ warf der Drache ein.
„Es wird für alle eine Rolle geben“, beschwichtigte der Löwe. „Ich habe folgende Besetzung im Sinn:

Othello, Mohr im Dienste der venezianischen Republik: Kasperle;
Jago, Othellos Fähnrich: Zauberer;
Desdemona, Othellos Frau: Prinzessin;
Cassio, Othellos Leutnant: Pezi;
Ein Diener Jagos: Drache;
Palastwache: Polizist;
Ein Räuber: er selbst;
Desdemonas Amme und Vertraute: Großmutter.

Die Handlung wäre adaptiert grob die folgende: Othello, dunkelhäutiger Feldherr der venezianischen Armee, ist mit Desdemona verheiratet. Als Othello Jago, Fähnrich in seinen Diensten, bei einer Beförderung übergeht und an seiner Statt Cassio zum Leutnant ernennt, beginnt dieser, unterstützt von seinem Diener…“ (wohlwollendes Nicken seitens des Drachen) „…eine Intrige zu spinnen, indem er Othellos Zorn auf Cassio lenkt und diesem rät, mit Hilfe Desdemonas die Gunst Othellos zurückzugewinnen. Als Othello ein Treffen zwischen Cassio und Desdemona belauscht, glaubt er, von Jago angestachelt, dass Desdemona Cassio liebt. Othello findet das Taschentuch Desdemonas bei Cassio, das diesem allerdings von Jago untergeschoben wurde, und ersticht Desdemona. Desdemonas Amme stürzt sich verzweifelt aus dem Fenster des Palastes. Als Othello seinen Irrtum begreift, schließt er sich der Fremdenlegion an. Jago und sein Diener…“ (wohlwollendes Nicken seitens des Drachen) „…werden von der Palastwache verhaftet. Cassios Aufgabe als Nachfolger Othellos ist es nunmehr, Gericht über Jago zu halten. Soweit irgendwelche Fragen?“ Die Runde schwieg. „Tatsächlich“, resümierte der Drache, „am Schluss bleibt kaum jemand übrig…“
„Gut, die Amme muss sich ja nicht unbedingt aus dem Palastfenster stürzen, sondern kann von mir aus demissionieren und nach Kuba ins Exil gehen. Würde dem Ganzen eine gewisse versöhnlich-humorige Note geben. Aber was haltet ihr grundsätzlich davon?“
„Klingt ja soweit nicht schlecht. Und wie sieht‘s mit dem Text für die Nebenrollen aus?“ fragten die Nebenrollen.
„Macht euch keine Sorgen, für jeden ist was dabei. Hier habt ihr die Textbücher, lest euch mal ein. Ich rede in der Zwischenzeit mit dem Direktor. Wenn alles nach Plan läuft, können wir in einer Woche mit Proben anfangen und das Ding auf die Bühne bringen.“

Dritter Teil

Der Tag der Premiere war gekommen. Der Löwe hatte keine nennenswerten Schwierigkeiten gehabt, dem Theaterdirektor, der zwar ein ausgefuchster und zäher Verhandler in wirtschaftlichen Angelegenheiten war, jedoch nahezu gänzlich unbeschlagen was kulturelle Fragen betraf, das Stück zu verkaufen. Der Löwe hatte sich vorab von dem Dramaturgen, bei dem er früher gewohnt hatte, briefen lassen. Dieser pflegte mit dem Theaterdirektor ein freundschaftliches, auf gegenseitigem Respekt basierendes Verhältnis, das sich im Rahmen ihrer Zusammenarbeit für eine andere Bühne, der der Direktor vorstand, entwickelt hatte. Ausprägung dieses gegenseitigen Respekts war es unter anderem, dass der Dramaturg dem Theaterdirektor beinahe jedes Stück unterzuschieben imstande war und dabei nur auf den scharfen Verstand des Theaterdirektors in künstlerischen Dingen verweisen musste. Um sich keine Blöße geben zu müssen, nickte der Theaterdirektor sämtliche Vorschläge ab und war ungemein stolz darauf, ein derart feinsinniges Gespür für neue und aufregende Strömungen zu haben.

Der Löwe war bemüht gewesen, die Besprechung mit dem Theaterdirektor in einer ähnlichen Schiene laufen zu lassen. Vom Dramaturgen war er dem Direktor als neuer Stern am Theaterhimmel angekündigt worden, und er hatte sich vorgenommen, diesen schon bei der Schilderung des Plots in den schillerndsten Farben auf seine Seite zu bringen. Auf die leisen Einwände des Direktors, dass eine solche Anhäufung von Leichen in einem Puppentheater unter Umständen für Kontroversen im Publikum sorgen könnte, hatte der Löwe lediglich mit Achselzucken reagiert. Ob der Direktor sich denn vorstellen konnte, welche Chance dieses Stück auf dem Weg der Puppenbühne zu einer Spielstätte von Weltruhm bedeutete? Der Theaterdirektor hatte zwar einige Schwierigkeiten gehabt, sich diese Vorstellung zu vergegenwärtigen, hatte aber andererseits wenig Lust, mit einem Stofflöwen in kulturpolitischen Diskurs zu treten, der ihm in dieser Hinsicht offensichtlich haushoch überlegen war. Mit dem Hinweis auf

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