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Die alte Dame
Heute ist es anders als sonst. Heute wird Karlas geliebter Gleichklang des Tages unterbrochen. Es ist schon nach Mittag, und die schweren, braunen Rollläden der alten Dame verstecken immer noch die vergilbten Fenster. Karla sitzt im Garten des kleinen Reihenhauses, dass sie mit Till vor gut einem Jahr bezog und schaut auf die Veranda der alten Dame. Dort liegt noch immer der kleine Kehrbesen, den sie gestern mühevoll suchte, und schließlich hinter den aufgebäumten blauen Mülltüten fand. Währenddessen kam sie ins straucheln, wäre sogar fast gestürzt und das Stöhnen, das die Alte beim Suchen von sich gab, hörte man über den dazwischen liegenden Garten bis hin zu Karla. Nicht auszudenken, wenn sie auf den harten Steinboden gefallen wäre.
Die alte Dame feierte kürzlich ihren dreiundneunzigsten Geburtstag, und man sagt ihr nach, sie sei in der biederen Vorstadt nicht sehr beliebt. Man munkelt, sie sei damals eine strenge Regelschullehrerin gewesen, und sie verschaffte sich im Laufe der Jahre nicht nur durch ihren barschen Unterton mehr Anti- als Sympathien in der Nachbarschaft. Neulich rief die alte Dame Karla zu sich. Sie solle sich ein paar Johannisbeeren pflücken, bevor sie gänzlich vertrocknen würden. Da meinte Karla ihn auch gehört zu haben, den barschen Tonfall, denn obwohl als nette Geste gemeint, waren ihre rauen, hervor preschenden Worte doch mehr als Befehl zu verstehen.
Sich gegenüberstehend am Johannisbeerstrauch erkannte Karla schnell die vergangene Schönheit der alten Dame. Die verschmitzten, strahlendblauen Augen, die von Schlupflidern ummantelt waren, leuchteten sie an. Lange Wimpern untermauerten ihren immernoch perfekten Diva-Augen- Aufschlag und die zum Halbmond geformten ergrauten Brauen unterstrichen diese Pracht noch zusätzlich. Volle, naturrote Lippen ließen trotz reichlicher Fältchen erahnen, welch liebreizendes Gesicht die alte Dame einst schmückte.
Täglich schritt sie, stets mit einer dezent gemusterten Kittelschürze bekleidet durch die Verandatür. Fast immer trug sie den weißen Plastikeimer in der Hand, indem sie das Unkraut sammelte. Bedächtig und langsam, fast krumm, aber mit anmutigem Stolz bedacht, ging die alte Dame die Treppe zum Garten herunter. Karla merkte, wie schwer es ihr fiel, jede einzelne Stufe zu bezwingen. Auch hier wurde gestöhnt, und manchmal leise geflucht, aber das Gesicht der Alten war beharrlich gen Himmel gerichtet. Bisweilen sah ihre Gestalt daher dramatisch aus, wenn der zierliche Körper durch Schmerz tief gekrümmt war, sie aber erhobenen Hauptes die Strapazen der fünf Stufen bewältigte. Ihr Kopf war nur gradlinig, wenn sie mit ihren anderen Menschen sprach, ansonsten ragte er stets ein wenig zu stark nach oben. Karla überlegte hin und wieder, warum die alte Dame diese auffällige Kopfhaltung wählte. Vielleicht sah sie als Kind zu oft nach unten, und man maßregelte sie deshalb hart, so dass sie es sich abgewöhnte, ihren Weg im Leben mit dem Blick nach unten gerichtet zu beschreiten. Vielleicht sagte sie sich aber auch selbst, dass es schöner und gesünder für die Seele ist, das Blau des Himmels und das Gelb der Sonne zu betrachten, als den staubigen Feldboden. Heute jedoch fehlt sie, die alte Dame.
Der hellbraune Holzstuhl steht leer neben dem mit einer blauen Plastikdecke bezogenen Tisch. Auf ihm befindet sich ein gelbliches Asterngesteck, das ihr gestern die Angestellte des Pflegedienstes mitbrachte. Eigentlich nett anzuschauen, aber auf Karla wirkt dieses Stillleben heute bedrohlich. Es wirkt so, als ob sich dieses Bild nie mehr verändern wird. Der Stuhl wird für immer leer bleiben wird, und irgendwann, in ein paar Wochen, an der Vorderseite des Hauses mit dem Rest des Mobiliars auf den Sperrmüll warten. Die polnischen Untermieter, die der Hausherr gegenüber seit einiger Zeit beherbergt, würden in der Nacht vielleicht Stuhl und Tisch an sich nehmen, um damit ihre spärlich eingerichtete Wohnung im zweiten Stock schmücken. Der Nachbar klingelte nämlich vor einiger Zeit bei der alten Dame, um nach ausgedienten Möbeln zu fragen. Karla wurde Zeugin, wie sie ihn argwöhnisch abwimmelte, und hurtig wieder ihre Haustür schloss.
Karla muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass die alte Dame nicht mehr auf dem Holzstuhl sitzen wird, um widerwillig das vom Pflegedienst hingestellte Mittagessen entgegenzunehmen. Oft stritt sie mit den Angestellten, beschimpfte sie sogar, weil es ihr nicht mundete, die in Plastik verpackte Mahlzeit. Dabei wählte die Alte auch hier hin und wieder Worte, die erahnen ließen, warum sie es sich ihren Mitmenschen verdarb.
Man sagt, sie, die alte Dame habe nie geheiratet, weil ihr Verlobter, den, den sie liebte, nicht aus dem Krieg zurückgekehrt sei. In guten Momenten, dann wenn sie sich auf der Liege von der Mittagsonne berieseln ließ, dichtete Karla jedoch dem Schicksal der Alten eine abenteuerliche Wendung an. Vielleicht war der stetig gerichtete Blick zum Licht ja einer wunderbaren Liaison zu verdanken. Hierfür gestattete Karla ihrer Phantasie freien Lauf und erträumte sich für die alte Dame heiße Liebesnächte mit atemraubenden Orgasmen in verschlagenen kleinen Betten oder hinter dem Pult in holzmodrigen Klassenzimmern der fünfziger Jahre. Durch das täglich eintönige Erleben der alten Dame verabschiedete Karla sich jedoch schnell wieder von diesen ausschweifenden Gedanken. Die erhoffte Leichtlebigkeit passte nicht zu ihr, deren Leben heute überwiegend von Strenge und Disziplin, gespickt von ein klein wenig Verbitterung regiert wird.
Sie altert schwer. Vor drei Jahren war alles noch möglich, erzählte die alte Dame Till vor einiger Zeit, als sie ihn zu sich holte, damit er ihr die klemmende Garagentür reparierte. Da machte sie mühelos noch sämtliche Garten- und Hausarbeit allein, heute sei dies nicht mehr möglich. Sie erzählte es ihm fast überrascht, überrascht darüber, dass das Alter sie nun doch eingeholt hat. Dabei schaute sie Till mit ihren großen strahlendblauen Augen an. So wie ein kleines Mädchen, das Schutz sucht. Vielleicht merkte die alte Dame genau wie Karla damals, dass er es kann, beschützen.
Till erzählte Karla später, dass in der Garage der alten Dame ein gelbes VW-Cabrio steht. Ein Überbleibsel aus besseren Tagen, meinte die Alte, nachdem er das Auto interessiert betrachtete. Es hat sein Alter zwar auch erreicht, aber sie habe sich akribisch gekümmert, damit das Cabriolet nicht verroste und der gelbe Lack keinen Schaden nimmt.
Manchmal, wenn Karla zu der alten Dame rüber blickte, meinte sie ein zartes Lächeln zu