in memoriam Günter Grass
Ob Günter Grass mit der Wahl des Namens seines Trommel- und Maulhelden auf den physikalischen Vorgang der Einweichung anspielen wollte oder ob er einfach einen typischen Namen geben wollte, wissen wir nicht. Es geht auch nicht um den Nachnamen, sondern der Tod des Schöpfers in der vergangenen Woche lässt uns darüber nachdenken, ob mit Oskar Matzerath ein neues Narrativ geschaffen wurde, das in die Literatur und in die Wirklichkeit eingehen wird oder vielleicht sogar schon eingegangen ist.
Wie Goethe seinen Dr. Heinrich Faust, so implementierte auch Grass seinen Oskar in eine halb aus Grimmscher Sagenwelt, halb aus wissenschaftlich-realistischer Faktizität bestehende Romanhandlung. Der Däumling aus dem Märchen ist der zwar verunstaltete, aber besonders treue Sohn. Er weiß seine Körperlichkeit in den Dienst seines außergewöhnlichen Intellekts zu stellen, der auf die Rettung seiner Eltern zielt, die ihn in diese Lage brachten. Schon im Grimmtext findet sich also die Aussöhnung der Generationen. Eine Karikatur dagegen des als Wissenschaftlichkeit getarnten gesunden Menschenverstandes sind der eher wohlwollende Arzt und das heillos überforderte Fräulein Spollenhauer als Lehrerin. Die Aussöhnung des genialen Zwerges mit seiner Elterngeneration, die nicht nur familiäres, sondern auch nationales Chaos veranstaltete, findet demzufolge erst im dritten, bundesrepublikanischen Teil des Romans statt.
Goethe ist es gelungen, aus dem Unhold der christlich-mythologischen Überlieferung des Dr. Faust als Wunderheiler und Teufelskomplizen, die er schon als Kind vom Jahrmarktspuppenspiel her kannte und oft nachgespielt haben mag, den Protagonisten der Aufklärung und Kreativität zu machen, als der er dann in die Bildungsgeschichte einging. Merkwürdig ist nur die Vereinnahmung auch durch die aufeinanderfolgenden totalitären Regimes des deutschen Kaiserreiches, des Nationalsozialismus und der DDR. Daraus könnte eine leichte Kompromittierbarkeit des Stoffes und des Textes liegen oder aber, was doch wahrscheinlicher ist, der Versuch der jeweiligen politischen Herrschaft, sich nicht nur als allkompetent, sondern auch als rechtmäßiger Erbe zu verstehen. Die Skrupellosigkeit des Faust, die Goethe aus der Vorlage übernommen hat, wird dabei in Kauf genommen und mit dem immerhin überdimensionierten Ergebnis verrechnet. Diese Kompensation ist später durch Grass nicht aufgehoben worden. Insofern ist Oskar nicht der Gegenspieler von Faust. Im Gegenteil verstrickt sich Oskar, obwohl er es aufgrund seiner Körperlichkeit gar nicht müsste, in den als verbrecherisch erkannten Krieg. Die Beteiligung der Intellektuellen an den Verbrechen der Politik ist bei Grass eher medial, bei Goethe dagegen als direkte Einflussnahme zu verstehen. Faust ist nicht nur Berater des Kaisers, sondern greift direkt sowohl in das Marktgeschehen der maroden Geldwirtschaft ein, als auch in den Krieg, den er sowohl von der Intention als auch von der Methode her ablehnt. Die Opfer der Landnahme, das sagenhafte Ehepaar Philemon und Baucis, die ihre Auferstehung am Rande eines für einen Braunkohlentagebau zu zerstörenden Dorfes fanden, nimmt er billigend und resignierend in Kauf. Stets ist ihm seine Idee wichtiger als das Medium, dessen er sich zur Verwirklichung bedient. Auch Oskar spielt gerne Theater, egal wo und für wen. Jedoch dienen die Bestsellerschallplatten, mit denen er von der heil- und Pflegeanstalt aus reich und reicher wird, nicht medialen, nebulösen Zwecken, sondern der Therapie eines ganzen Volkes.
Statt also darüber zu rechten, ob und warum Grass als 17jähriger an den letzten Tagen eines verlorenen Krieges teilnahm, wieweit war er SS-Mann oder orientierungsloser, wenngleich verführter Jugendlicher, sollten wir lieber über den Beitrag des Narrativs nachdenken, das er uns geliefert hat.
Demzufolge ist die nicht zu verhindernde Verstrickung des Menschen in die Umstände seiner Zeit nicht der eigentliche Mangel, sondern die später fehlende Aufarbeitung, die Trauerarbeit, das nachträgliche Denken, welches die Zeit nicht umkehren kann, wohl aber den Menschen. Die Wirkung der Blechtrommel im dritten Romanteil ist eine Wunschvorstellung, ein Ideal. Es wäre schön, wenn die Kunst direkte Aufklärung bringen könnte. Allerdings ist ein historischer langer Atem vorausgesetzt. Die Aufklärung selbst und merkwürdigerweise die Diktaturen glaubten immer wieder, dass allein die zwangsweise Lesung zur Besserung führt. Vielmehr ist es aber die Dauerwirkung auf viele Generationen, die eine millimeterweise Änderung der Ansichten mit sich bringt. So wirkt Lessings Nathan, im Berliner Nikolaiviertel ausgedacht, heute gerade in solchen multikulturellen Städten wie Berlin. Lessing kann nicht an die Leser und Zuschauer gedacht haben, auf die heute sein Werk so wohltuend wirkt. Es gab damals keinen Mustafa in Berlin, den die Verwandtschaft mit Saladin und Recha hätte freuen können.
Das Narrativ wirkt immer auch über die Eliten vermittelt. Viel mehr Menschen legen heute das Abitur als allgemeine Eintrittskarte in eine kommodierte Arbeitswelt ab. Zwar gibt es auch eine ungeheure Zunahme von notwendigen Kompetenzen, aber nach wie vor ist eine Säule der Bildung das Narrativ, die Interpretation der großen Geschichten der Menschheit.
Allerdings ist auch die Beschreibung der autodidaktischen Bildung des körperlich verbildeten Oskar zusammen mit seinen ungeheuren wirtschaftlichen Erfolg stilbildend und vorbildhaft. So wie Kafka vielleicht eine selbstgewählte mediale Metamorphose vorhersah, so hat auch Grass als Seismograph die ungeheure Wirkung von immer wieder reproduzierter Kunst vorhergesehen. Insofern ist sein Oskar, der Trommler, die Vorwegnahme des Medienzeitalters einschließlich des HipHop, einer Kunst, die sich sowohl als Installation wie auch als körperlich untersetzte Dichtung und Musik versteht.
Die Metapher des Trommlers ist von Hitler im Lazarett in Pasewalk auf ihren Tiefpunkt gebracht worden. Hitler simulierte hier seine zeitweilige Blindheit, die ihn zu der Erkenntnis führte, dass er der begnadete Führer Deutschlands auf dem Weg der Rache und Revision werden könnte. Er benutzte dabei in seinem Machwerk 'Mein Kampf' das damals geläufige, militaristische Bild des vor der Truppe marschierenden Trommlers, der den Takt angibt für den Gleichschritt in Tod und Verderben. Von dem Lazarett übrigens, das eine umgebaute Ausflugsgaststätte war, ist nur ein Anbau geblieben, in dem heute eine Förderschule untergebracht ist.
Grass kehrte dieses Bild um. Zwar gibt aus auch heute noch die aus den Türkenkriegen stammende Militärmusik, aber sie spielt nur noch eine höchst marginale Volksfestrolle. Statt dessen steht, auch durch den Roman und den Film vom blechtrommelnden Oskar, die in Deutschland eine stilistische Wende herbeiführten, die Kunst und die Metapher des Trommlers heute für Reflexion, Allgegenwart einer medial und reproduktiv verbreiteten Kunst, die jeden, aber auch wirklich jeden erreicht. Wovon die Brüder Grimm und Goethe träumten, was Kafka und Grass immerhin ahnten, das gibt es heute teils mit, teils gegen die herrschende Bildung: das totale Narrativ.