Es wohnen die hohen Gedanken
In einem hohen Haus.
Ich klopfte, doch immer hieß es:
Die Herrschaft fuhr eben aus!
Nun klopf ich ganz bescheiden
Bei kleineren Leuten an.
Ein Stückel Brot, ein Groschen
Ernähren auch ihren Mann.
Analyse
Einleitung
Wilhelm Buschs Gedicht Es wohnen die hohen Gedanken ist ein kurzes, aber pointiertes Werk, das die Distanz zwischen Idealismus und Realität thematisiert. Der Dichter greift in einfacher Sprache und bildhafter Darstellung die Frage auf, wo man Erhörung und Wertschätzung finden kann. Das Gedicht zeugt von einer leichten Ironie, wie sie typisch für Buschs Werke ist, und hinterfragt den vermeintlichen Glanz der "hohen Gedanken".
Inhaltliche Analyse
Das Gedicht lässt sich in zwei Teile gliedern:
-
Die hohen Gedanken und ihre Unerreichbarkeit (Strophe 1):
-
Das lyrische Ich sucht die "hohen Gedanken", die in einem metaphorischen "hohen Haus" wohnen.
-
Die Verwendung von "klopfen" und die Antwort, dass "die Herrschaft fuhr eben aus", zeigt die Unnahbarkeit und Unerreichbarkeit dieser hohen, idealistischen Sphäre.
-
Die "hohen Gedanken" können hier als Symbole für das Streben nach Idealismus, intellektueller Perfektion oder auch gesellschaftlicher Anerkennung gesehen werden.
-
-
Die Bescheidenheit und das Alltägliche (Strophe 2):
-
Enttäuscht von der Ablehnung sucht das lyrische Ich nun bei den "kleineren Leuten" Zuflucht.
-
Diese kleinen Leute stehen für das Alltägliche, Bodenständige und Pragmatische. Hier reicht ein "Stückel Brot" oder ein "Groschen" zur Versorgung.
-
Das lyrische Ich akzeptiert die Realität und findet in der Bescheidenheit und dem Pragmatischen das, was nötig ist, um zu überleben.
-
Formale Analyse
Struktur und Aufbau
Das Gedicht besteht aus zwei Strophen mit jeweils vier Versen. Die klare, kompakte Form unterstreicht den pointierten Charakter des Gedichts.
Reimschema
Das Reimschema ist abweichend und lässt sich nicht klar einem klassischen Schema wie dem Kreuzreim (ABAB) zuordnen.
-
Es wohnen die hohen Gedanken (kein Reim)
-
In einem hohen Haus (B)
-
Ich klopfte, doch immer hieß es (kein Reim)
-
Die Herrschaft fuhr eben aus! (B)
Die scheinbare Unregelmäßigkeit im Reimschema spiegelt die inhaltliche Unzugänglichkeit und den Kontrast zwischen hohen Idealen und pragmatischer Realität wider. Wilhelm Busch verwendet unreine Reime, wodurch der leicht ironische Ton verstärkt wird.
Metrum
Das Gedicht weist einen wechselnden Rhythmus auf, der jedoch weitgehend trochäisch wirkt (betont-unbetont). Dies verleiht dem Text einen fließenden, volkstümlichen Charakter, der zu Buschs schlichter, eingängiger Sprache passt.
Kadenzen
Die Strophen enden auf abwechselnd männliche und weibliche Kadenzen, was das Gedicht rhythmisch harmonisch und leicht lesbar macht.
Sprachliche Mittel
-
Metapher:
-
Das "hohe Haus" steht symbolisch für die Erhabenheit und Unerreichbarkeit idealistischer Gedanken oder gesellschaftlicher Sphären.
-
-
Personifikation:
-
Die "Herrschaft fuhr eben aus" personifiziert die Gedanken und betont, wie unnahbar und distanziert sie sind.
-
-
Antithese:
-
Die Gegenüberstellung von "hohen Gedanken" und "kleineren Leuten" hebt den Kontrast zwischen Idealismus und Realität hervor.
-
-
Ironie:
-
Die scheinbare Beiläufigkeit der Suche nach einem "Stückel Brot" und einem "Groschen" enthält eine ironische Kritik an der Präferenz für das Pragmatische über das Unerreichbare.
-
-
Alltagssprache:
-
Die einfache, volksnahe Sprache (z. B. "Stückel Brot") verstärkt den realistischen, bodenständigen Ton des Gedichts.
-
Interpretation
Wilhelm Buschs Gedicht kritisiert auf subtile Weise das Streben nach idealisierten, höheren Zielen, die sich als unzugänglich und unerreichbar erweisen. Die "hohen Gedanken" können als Symbol für elitäres Denken oder unerreichbare Ideale gesehen werden. Das lyrische Ich erfährt Ablehnung und kehrt zu den einfachen Dingen des Lebens zurück.
Die Bescheidenheit, die im zweiten Teil des Gedichts beschrieben wird, steht im Kontrast zur Unerreichbarkeit der höheren Sphären. Busch zeigt hier seine Sympathie für das Pragmatische und Bodenständige – Werte, die im Alltag erfüllbar und greifbar sind. Die Ironie des Gedichts lässt jedoch offen, ob das lyrische Ich die "hohen Gedanken" wirklich aufgegeben hat oder ob es nur eine vorübergehende Resignation ist.
Vergleich zu anderen Werken Wilhelm Buschs
Wilhelm Busch thematisiert in vielen seiner Gedichte und Geschichten die Spannung zwischen Idealismus und Realität.
-
In "Der heilige Antonius von Padua" etwa kritisiert Busch die Heuchelei der Frömmigkeit.
-
In "Die fromme Helene" deckt er die Diskrepanz zwischen Schein und Sein auf.
-
Auch in seinen humorvollen Bildern wie Max und Moritz präsentiert er die Absurdität des menschlichen Strebens nach Anerkennung oder Perfektion.
In Es wohnen die hohen Gedanken zeigt Busch erneut seine Vorliebe für kritische Ironie und seine Sympathie für die einfachen, greifbaren Dinge des Lebens.
Fazit
Es wohnen die hohen Gedanken ist ein pointiertes Gedicht, das die Unnahbarkeit idealistischer Ziele und die Zuflucht zu alltäglicher Bescheidenheit thematisiert. Wilhelm Busch zeigt mit klarer, eingängiger Sprache und einer Prise Ironie, wie der Mensch zwischen hohen Idealen und pragmatischer Realität schwankt. Damit verbindet das Gedicht auf einfache, aber treffende Weise Humor mit Gesellschaftskritik und bleibt zeitlos aktuell.