Die Tanne

Bild von Volker Friebel
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Lang sind die Schwestern schon fort;
manche schippert als Mast für ein Segel
über Meere, manche trägt das Dach
eines Hauses, manche pfeift einen Ton
im Präludium durch den weiten Raum
eines Doms. – Nur ich bin noch da,
zu krumm gewachsen für die Blicke
der Holzfäller und für ihre Äxte.

Jahrhunderte ziehen ihre Kreise um mich,
das Gebirge rieselt in den Bächen zu Tal.
Die Zeit ist lang. Da lausch ich dem Wind,
der Geschichte vom Mann,
der sein Herz verlor
an die hohen Ideen vom Menschen
und der es wiederfand, gefallen
zwischen duftende Gräser und Klee.

Aber die Bienen summten
um Fetzen, rot glänzten die
unter dem Himmel und zuckten, und wer
sie da zusammenlas,
der gab ihnen Namen neu.
Und zurückgebracht zu den Menschen,
schüttelten die ihre Mähnen
und senkten den Blick.

Sie führten ihn fort mit verbundenen Augen,
sie sagten ihm gute Worte,
sie zahlten im Gasthaus für ihn,
sie ließen ihn trinken vom Staub,
sie gaben ihm Salz zu essen und Mohn,
sie knebelten ihn mit dem Haar seiner Liebsten,
das sie vom Kirchhof schnitten,
sie führten ihn zu seinem Thron.

Auf der Wiese ruhte er oft, wo die Alb
herüberblickt, und murmelte Namen:
Rossberg, Kornbühl, Dreifürstenstein.
Am Weinhang saß er manchmal, schaute über
den Neckar, sah den Flößern nach
und träumte vom Segel, vom schlanken Mast,
ein Holunderbusch, die Kinder
schnitten Stecken aus ihm.

Da sinnt er wohl immer noch
oder lacht laut und geht
übers tönende Pflaster am Stift
und sieht durch ein Fenster vielleicht
das aufgeschlagene Buch,
vor dem niemand mehr sitzt,
während der Mond überm Giebel
seine Bahn neu beginnt.

Veröffentlicht / Quelle: 
Aus: Volker Friebel (2019): Manchmal Tau. Lyrik und Haiku. Mit Schwarz-Weiß-Fotos. Edition Blaue Felder, Tübingen.
Gedichtform: 
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