Justine oder vom Missgeschick der Tugend

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[Erster Band]
I. Kapitel.
(Einleitung. – Justines erstes Abenteuer.)

Es wäre die Hauptaufgabe der Philosophie, die Mittel aufzudecken, deren sich das Schicksal zur Erreichung seiner Zwecke bedient. Dann müßte sie diesem unglückseligen zweifüßigen Wesen Verhaltungsmaßregeln für seinen dornenvollen Lebensweg aufzeichnen, damit es nicht von den bizarren Launen dieses Schicksals – das man bald Bestimmung, bald Gott oder Vorsehung, dann wieder Zufall oder Vorausbestimmung genannt hat – abhängig sei.

So sehr wir auch durchtränkt sind von einer unnützen, lächerlichen und abergläubischen Ehrfurcht für unsere unsinnigen gesellschaftlichen Gebräuche, wird es doch vorkommen, daß Leute, die entweder grundsätzlich oder aus Neigung oder aus Temperament lasterhaft sind, glauben, daß es besser ist, sich dem Laster hinzugeben, als sich ihm zu widersetzen: Denn wie oft sehen sie nicht, daß Bösewichte für ihre Missetaten nur süßen Lohn ernten?

Werden sie nicht mit einiger Berechtigung sagen, daß die Tugend, so schön sie sein mag, der schlechteste Teil ist, denn man ergreifen kann, wenn sie zu schwach ist, um gegen das Laster anzukämpfen und daß in einem so verderbtem Zeitalter, wie das unsere ist, das Beste darin besteht, so wie die Anderen zu handeln? Bei mehr philosophischer Betrachtung könnten sie auch mit dem Engel Zesrad de Zadig sagen, daß es nichts Böses gibt, aus dem nicht Gutes entstünde und daß sie sich demnach dem Bösen so viel hingeben könnten, wie sie wollten, da das in Wirklichkeit nur eine Form ist, Gutes zu tun? Werden sie nicht hinzufügen, daß, wenn die Tugend vom Unglück verfolgt wird, das Laster gedeiht und beides in den Absichten der Natur liegt, es unendlich besser ist, mit den Bösewichtern zu gehen, die begünstigt sind, als mit den Tugendhaften, die zugrunde gehen.

Um diese Anschauung zu unterstützen – ein längeres Verschleiern ist unnütz – wollen wir der Oeffentlichkeit die Geschichte der tugendhaften Justine berichten. Es handelt sich darum, daß die Dummköpfe endlich aufhören, jenes lächerliche Götzenbild der Tugend anzubeten, das sie nur mit Undankbarkeit belohnt und daß Leute mit Verstand sich umso sicherer fühlen,[1] wenn sie die verblüffenden Beispiele von Glück und Wohlfahrt sehen, die das Laster und die Ausschweifung fast mit unumstößlicher Gewißheit begleiten. Es ist zweifellos peinlich, einerseits die schrecklichen Unglücksfälle schildern zu müssen, von denen die sanfte und empfindsame Frau überhäuft wird, die aufs Beste der Tugend gehorcht und andererseits zeigen zu müssen, wie die Leute glücklich sind, die diese selbe Frau quälen und zu Tode hetzen. Aber der Schriftsteller, der genug Philosoph ist, um die Wahrheit sagen zu können, steht über diesen Unannehmlichkeiten und durch die Notwendigkeit zur Grausamkeit gezwungen, reißt er mit unbarmherziger Hand die abergläubischen Hüllen herab, mit denen die Dummheit die Tugend verschönern will, und zeigt dem unwissenden Mann, den man betrog, das Laster inmitten der Reize und Genüsse, die ihm ununterbrochen folgen.

Solche Empfindungen werden diese Schrift leiten. Und aus diesen Gründen werden wir mit der zynischesten Sprache, den unsittlichsten und gottlosesten Ideen das Verbrechen beschreiben, wie es ist, das heißt, stets triumphierend, immer zufrieden und beglückt und die Tugend wird man gleicherweise immer unglücklich, bekümmert und gepeinigt sehen.

*

Juliette und Justine, beide Töchter eines sehr reichen Pariser Banquiers, wurden bis zu ihrem vierzehnten, beziehungsweise fünfzehnten Lebensjahr in einem der berühmtesten Stifte von Paris erzogen. Dort wurde ihnen kein Ratschlag, kein Buch, keine Unterweisung vorbehalten, und sowohl die Sittlichkeit, wie die Religion und die freien Begabungen schienen jedes der jungen Mädchen für sich ausgebildet zu haben.

Zu dieser für die Tugend der beiden jungen Mädchen sehr bedrohlichen Zeit kam es, daß ihnen eines Tages plötzlich Alles fehlte. Ein vollständiger Bankerott brachte ihren Vater in eine so peinvolle Lage, daß er an dem Kummer starb. Seine Frau folgte ihm einige Monate nachher nach.

Zwei gleichgültige entfernte Verwandte berieten, was mit den jungen Waisen geschehen sollte. Ihre Erbschaft betrug, da Alles von den Gläubigern verschlungen worden war, 100 Taler für jede. Da sich niemand um sie weiter kümmern wollte, öffnete man ihnen die Pforten des Klosters und ließ ihnen die Wahl, zu werden, was sie wollten.

Die lebhafte, sehr hübsche, eitle und verdorbene ältere Juliette schien nur erfreut zu sein, nicht mehr in einem Kloster vegetieren zu müssen, ohne an die Ursachen zu denken, während die harmlosere, interessantere, vierzehnjährige Justine, die von der Natur einen düsteren und romantischen Charakter erhalten hatte, mehr das Furchtbare ihres Geschickes empfand.

Dieses junge, so vielseitig begabte Mädchen besaß die Schönheit jener wundervollen Jungfrauen Raphaels. Große[2] braune, seelenvolle Augen, eine weiche, schmelzartige Hand, eine zarte und biegsame Taille, runde und von der Liebesgöttin selbst gezeichnete Formen, eine bezaubernde Stimme und neben einem entzückenden Munde waren die schönsten Haare der Welt ihr eigen, deren Reize weit über dem standen, was die Feder leblos beschreiben kann.

Der Leser möge sich Alles vorstellen, was seine Phantasie an Verführerischem sich andeuten kann, und es wird hinter der Wirklichkeit zurückbleiben.

Man hatte beiden vierundzwanzig Stunden Frist zum Verlassen des Stiftes gegeben. Juliette war bemüht, die Tränen Justinens zu stillen. Als sie ah, daß ihr das nicht gelang, begann sie, sie auszuzanken, statt sie zu trösten. Sie warf ihr ihre Empfindlichkeit vor. Sie sagte mit weit über ihren Jahren stehenden Gedanken, daß man über nichts in dieser Welt bestürzt sein solle und daß man in sich genug starke physische Erregungen finden könnte, um solche Angriffe abzuschlagen. Daß die wahre Klugheit darin bestände, die Zahl seiner Freuden und nicht die seiner Leiden zu vermehren. Mit einem Wort, daß man nichts unterlassen dürfe, um in sich jene niederträchtige Empfindsamkeit zu ertöten, aus der bloß die Anderen Nutzen zögen, während sie uns nur Sorgen eintrüge.

»Ich,« sagte sie, indem sie sich vor den Augen ihrer Schwester auf ein Bett warf und die Röcke bis über den Nabel emporhob, »so mache ich es, wenn ich Kummer habe. Ich kitzle mich ... ich entlade und das tröstet mich.«

Der anständigen und tugendhaften Justine war diese Handlung ein Greuel. Sie wandte die Augen ab, und Juliette fuhr fort, indem sie ihr hübsches, kleines Löchelchen weiter rieb:

»Justine, du bist dumm. Du bist schöner als ich, trotzdem werde ich immer die glücklichere sein.« Nun fing die Hure an zu stöhnen und ihre junge Samenflüssigkeit, die vor den gesenkten Augen der Tugend ausgespritzt wurde, ließ

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Veröffentlicht / Quelle: 
Marquis de Sade: Die Geschichte der Justine. 1906
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