Stumme Diva

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Manchmal, im Finstergehege der Nacht, wird dir zumut’, als schliefe selbst die Zeit –
draußen, im Park nebenan, eingerollt auf einer Bank: ein zerschlissener
uralter Teppich, weichgetrommelt vom Regen, den der Sturm gegen dein Fenster peitscht,
und dann möchtest du am liebsten aufstehen und sie ins Haus holen,
damit sie sich nicht verkühlt.

Und dann liegt sie plötzlich neben dir auf dem Laken: alt und grau,
im tropfnassen Gewand, schweigsamer als Gott, und du schläfst wieder ein
und träumst vom Ende des Firns, den der Frühling von den Zweigen
der Kirschbäume schält – bis dein Wecker klingelt.

Du schlägst die Augen auf und stellst schon mal die Beine auf den Läufer,
und die Zeit betrachtet zärtlich dein zerzaustes Haar,
kriecht verschämt unter dein warmgeschlafenes Federbett.

Während du unter der Dusche stehst, kuschelt die Zeit ihr verliebtes Haupt in die
Mulde deines Kissens, selig über die tragenden Rolle, die sie in deinem
Leben spielt, knabbert die siebte Stunde des Tages an, gönnt dir ein
Honigbrötchen zum Kaffee, bevor sie dich zur Arbeit scheucht.

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