Ich möchte über alle Blätter schweben, die am Boden liegen
Geopfert hat der Baum sein eigen Fleisch und Blut
Dem Gott, der unerkannt in jedem Stamme ruht
Dem Wind, begierig, kahle Äste in den Schlaf zu wiegen.
Ich möchte über alle Schatten springen, die das Jahr vollenden
Den Segen, der in jedem Sterben weilt, empfangen
Indes die uferlose Zeit vorübereilt mit Angst und Bangen
Verblühn die Lippen uns, greift Rost nach unsren Händen.
Der Winter ist darauf bedacht, die Freud mir zu verwehrn
Mich jederzeit auf sonnenwarmen Wiesen auszustrecken
Wenn mich ein Weltschmerz quält, im Gras mich zu verstecken
Den Mondweg soll ich gehn und Eis und Schnee verehrn.
Ich möchte beten, selbst wenn alle Glocken endlos schweigen
Und niemand auf der Welt dem Frieden danken will
Der eintritt, wenn das Kriegsgeheul verstummt und still
Uns nur mehr Jahreszeiten überfallen, lebensnah im Reigen.
Und wenn ich dereinst fort muss, suche ich ein neues Glück
Von dort, wo Ewigkeiten auf mich warten, kehr ich nie zurück ...
Liebe LeserInnen: Das ist jetzt ein Sonett, eine Mischung aus Petrarca-Typ und Shakespeare-Typ: abba, cddc, effe, ghhg, ii. Nicht die Schweizer, ich hab es soeben erfunden. Danke, liebe Yvonne.
Kommentare
Dein Gedicht vom Schmerz des Abschiednehmens im Herbst des Jahres und des Lebens, in Dir eigene phantasiereiche Wortspiele verpackt, ist ergreifend, liebe Annelie, „Den Mondweg soll ich gehn und Eis und Schnee verehren“ - das ist ein Satz, der mich besonders berührt …
liebe Grüße zu Dir - Marie
Danke für Deinen verständnisvollen Kommentar, liebe Marie. Ich freue mich sehr, dass Dir das So-Nett gefällt. Der Satz, den Du zitiert hast, gefällt auch mir am besten, und ich bin froh, dass er mir ins Gedächtnis gerauscht kam. Mir fiel diese Dichtung leichter als manch ungereimtes Gedicht, das liegt daran, habe ich festgestellt, dass bei der Dichtung die Option eines Reimes vorgegeben ist. Es müssen sich beim So-Nett ja zwingend Worte reimen. Übrigens ist es interessant, dass es drei Grundtypen des So-Netts gibt: In Italien der Petrarca-Typ, in England der Shakespeare-Typ und in Frankreich der Ronsard-Typ. Aber bevor ich Dich langweile, wünsche ich Dir lieber einen wunderschönen Sonntag. Mir fällt gerade ein, was ich noch möchte: in einer Bibliothek mit Büchern ohne Ende leben.
Liebe Grüße,
Annelie
Du regst mich wieder einmal an zum Recherchieren an und langweilst mich mit Deinen Informationen nicht, liebe Annelie; ich habe allerdings durchaus auch eine kleine Ahnung davon, was ein Sonett aumacht ...
liebe Grüße - Marie
Liebe Marie, Du weißt genau, dass ich weiß, dass Du weißt, was ein Sonett ist. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, Dir dieses Wissen abzusprechen. Tiefergehendes entfällt einem, trotz Gingkopräperate, manchmal, während wir noch idiotische Dinge wissen. So weiß ich, was mir überhaupt nichts nützt, noch Rechtsfälle mit Aktennamen (Bsp. Müller gegen Schulze) aus meiner Lehrzeit, sogar die italienischen und griechischen Nachnamen, denn damals gab es ein paar Griechen und mehrere Italiener in unserer Stadt. Aber die Grundtypen, was Sonette betrifft, sind in der Tat äußerst interessant und obwohl ich selbst eines geschrieben habe, will ich Dir und allen anderen nicht vorenthalten, was meinem lieben Robert Gernhardt zum Sonett einfiel, damit Du was zum Schmunzeln hast:
Sonette find ich sowas von beschissen,
so eng, rigide, irgendwie nicht gut;
es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen,
daß wer Sonette schreibt. Daß wer den Mut
hat, heute noch so'n dumpfen Scheiß zu bauen;
allein der Fakt, daß so ein Typ das tut,
kann mir in echt den ganzen Tag versauen.
Ich hab da eine Sperre. Und die Wut
darüber, daß so'n abgefuckter Kacker
mich mittels seiner Wichserein blockiert,
schafft in mir Aggressionen auf den Macker.
Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.
Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen:
Ich find Sonette unheimlich beschissen.
Da Gernhardt leider nicht mehr unter uns Lebenden weilt, habe ich (Mackerin) mich an ein Sonett gewagt. Er kann sich ja nicht mehr darüber aufregen. Das Gedicht von Gernardt gehört übrigens auch zu den Sonetten.
Liebe Grüße und viel Spaß beim Recherchieren,
Annelie
In der Aufforderung " den Mondweg soll ich gehen" liegt nach m.E. die Kernaussage ; das lyr. Ich soll sich mit sich, gerade in den natürlichen Abläufen, hier im Herbst u. Abschied dargestellt , eins fühlen , als Teil dieses einen großen Ganzen."Lebensnah im Reigen" endet das Gedicht, verweist aber gleichzeitig durch Reigen auf Endlosigkeit u. Wiederkehr . Herzliche Grüße , liebe Annelie schickt Ingeborg
Deine hervorragende Interpretation erstaunt mich sehr, liebe Ingeborg, habe ich beim Schreiben doch ähnlich gedacht. Du hast meine Gedanken sehr gut in Worte gekleidet, dafür danke ich Dir ganz herzlich und wünsche Dir einen wunderschönen Sonntag. Danke auch, dass Du Dich so intensiv mit meinem Gedicht beschäftigt hast,
Annelie
Marie und Ingeborg, was die zwei wieder Kluges hier aufgefahren haben - da halt ich lieber meine Klappe und gebe als Grund an: bin soeben an Verstummung erkrankt. Aber selbst dieses Wort erinnert zu stark an die Wahrheit, man hört aus dem st ein d herausquellen.
Doch du siehst, ich bin mit den Loben von den beiden vollständig Überein, sonst würde ich jetzt Streit und Kriegsgeschrei veranstalten!
Friedensgruß nikotinarm
Uwe
Danke, lieber Uwe, für Deinen stummen Kommentar ohne Kriegsgeschrei inclusive der nikotinarmen Grüße. Nikotinfrei wäre mir allerdings noch lieber gewesen. So muss ich bei offenem Fenster doch ein bisschen Nikotin einatmen. Igittigitt.
Annelie
"Eis und Schnee verehrn", so wie der Baum, der diese als sein Nachthemd trägt.
Denn ein Jahr gleicht nur einem Tag in Baumes Leben.
So gleicht der Frühling einem frischen grünen Morgen, der Sommer gleicht der warmen Mittagszeit.
Der Hebst gleicht jener Abendstunde, in der wir uns entkleiden, um in den wohlverdienten Schlaf zu fallen, der in des Baumes Taglauf Winter heißt.
Ja, ich will Eis und Schnee verehren; ihr Andauern währt eh nur eine Nacht.
Und wieder ein wunderbares Werk, liebe Annelie, das zum Verweilen und zum Träumen einlädt. Habe beides ausgiebig ausgekostet :)
Grüße zur Nacht,
Ella
Liebe Ella, das ist ja ein ganz wunderbarer Kommentar zu meinem Sonett. Vielen herzlichen Dank dafür. Mach doch ein Gedicht daraus. Der Titel könnte in etwa lauten: Ein Jahr im Leben eines Baumes. Da Du über sehr viel Fantasie verfügst, wird es gewiss ein gutes Gedicht. Niemand deckt die Bäume im Winter zu. Aber die Natur ist wohl so eingerichtet, dass der Frost sie nicht wecken kann. Danke auch für Dein Lob, liebe Ella, über das ich mich sehr gefreut habe.
Liebe Grüße und genieße diesen Herbsttag, der wieder sehr schön werden soll,
Annelie
Liebe Annelie, "den Mondweg soll ich gehen": Was für eine wunderbare Idee! Da tauchen beim Lesen gleich so viele Bilder vor dem inneren Auge auf!
"Ich möchte über alle Schatten springen, die das Jahr vollenden
Den Segen, der in jedem Sterben weilt, empfangen"
Es stecken so viele tiefe Gedanken in deinem Gedicht, dass man eigentlich nichts gesondert herauspicken mag. Doch dieser obige hat es mir pers. besonders angetan
Alles Liebe und alles Gute und Schöne auf dem Mondweg, (der sicher auch in Eis und Schnee und ohne hohes Gras zum Verstecken dein einen oder anderen Segen bereithält)
wünscht dir Anouk
Liebe Anouk, ganz herzlichen Dank für Deinen lieben Kommentar, über den ich mich sehr gefreut habe. Den Mondweg stelle ich mir nüchterner, ernster und eisiger vor als den Sonnenweg, die Sonnenseite, und gestern, im Verweilen beim Mondweg, fiel mir gar ein:
"Winter - noch leerer die Straßen! - Ach, wenn doch bald Schnee käme ... von irgendwoher." Obwohl draußen die Sonne scheint, bin ich in Gedanken schon mitten im Winter, als könnte ich es nicht abwarten, draußen zu frieren, aber Weihnachten ist nicht mehr weit. In den Geschäften kann man bereits Stollen u. Weihnachtsgebäck kaufen, obwohl momentan draußen, zumindest wettermäßig, Sommer ist. - Danke für Dein schönes Lob und die guten Wünsche für den herbstlichen Mondweg, die ich gern mit Dir teile,
Annelie
Dankeschön für die wundervolle Antwort, liebe Annelie.
Die Idee, aus den oberen Zeilen ein Gedicht zu machen, gefällt mir. Mal schauen, wann es soweit sein wird.
Im Moment befinde ich mich in einer Schaffenskrise, einer guten wie ich glaube. Die Worte haben angefangen anders zu klingen, ganz merkwürdig, als wären sie lebendig, als hätten sie eine Seele, die mit meiner verschmilzt. Wirklich ganz merkwürdig, aber ich glaube, dass es gut ist, denn es fühlt sich gut an und ich bin gespannt was es zu bedeuten hat. (Hoffentlich sind es nicht die ersten Zeichen des Verrücktwerdens ;))
Bis dahin lasse ich erstmal alles, ganz in Ruhe, auf mich wirken und genieße die wundervollen Werke, die ich hier finde, so wie Deine :)
Ganz liebe Grüße,
Ella
In einer Schaffensperiode geht alles viel leichter. Nutze diese Zeit, liebe Ella. Ich freue mich auf neue Gedichte von Dir.
Liebe Grüße,
Annelie
Liebe Leser, Yvonne hat mich eben darauf aufmerksam gemacht bzw. mir bestätigt, dass mein So-Nett kein richtiges Sonett ist wie seines, Gernhardts, das tatsächlich eines ist. Darin liegt ja der Witz. - Bei meinem So-Nett-Typ sind zwei komplette Zeilen zuviel. Das werde ich bis heute Abend korrigiert haben.
Liebe Grüße,
Annelie
Soeben neu entworfen, das So-Nett
es besteht aus 14 Versen ferner
vier und mit ganz neuer intensiver
Message just von Annelie erdichtet
Oh, welch eine Wehmut welch Entzücken
herbstlich in Gedankenfluten quellen
aus der neusten Schichtung groß sie schwellen
wie spontan doch tiefer wirkts beglückend
verstörend flächig wundersam bis still
neigen sich Gemüter reihenweise
vor der Unbändigkeit die weiß so viel
bis hin zur Unendlichkeit summt's leise
und unaufdringlich weit wird die Pupill
die erfährt so sinnlich scheue Weise
LG Yvonne
Ihr habt es hier im Bilde von Yvonne:
Der kleine Tonsatz, das Sonett,
am End zwei dreizeilig Terzett
liest sich mit wahrer Wonn ...
Kommt von sonette und sonare:
Reimgedicht, das klingt ...
Wie hier die Zeile singt!,
ist in der Tat das wirklich Wahre,
was uns in einem Reim passieren kann.
Schon in der Renaissance geprobt
Hier wird von mir Yvonne gelobt
für siehe bitte oben, Frau und Mann!
Auch wenn es nimmer ist mein letztes Wort für heute,
dank ich Yvonne und euch fürs Lesen, liebe Leute.
Yvonnes Gedicht, ganz oben, ist ein gutes und schönes Beispiel für den Petrarca-Typ, mein Antwortgedicht ein Beispiel für den Shakespeare-Typ, Danke, liebe Yvonne.
LG Annelie