Schiffbrüchig ...

Bild von Annelie Kelch
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Sein Gefieder glänzte im Mondlicht wie ein Klumpen Silber.
Als ich sicher war, dass er schlief, schlich ich ans Ufer
und heftete meine Seele unter seinen linken Flügel.

Ich versteckte mich im Schilf und wartete auf den Morgen.
Endlich hob er den Kopf, lüpfte die Flanken, putzte sein Gefieder
und glitt ins heilige Wasser. Ich ließ ihn nicht mehr aus den Augen.
Vom hohen Gras verborgen, lief ich über den Wiesen neben ihm her.

Er reckte den schlanken Hals empor und segelte mit stolzer Anmut
über das Spiegelbild der aufgehenden Sonne:
Eine friedliche weiße Galeere.

Am Großen Priel wäre ich fast über ihn gestolpert, gestern,
so gegen Mittag. Er hatte den roten Schnabel im Gefieder
versenkt: ein schiffbrüchiger Schwan neben einem toten Fisch.

Die großen und kleinen Gräser ringsum zitterten vor Ehrfurcht;
mein Wiesenschaumkraut neigte vornehm die weißbunten Köpfe.
Über Deich und Elbe hing tiefe Melancholie, das Quaken der
Frösche verstummte und mein Haar fiel über beide Augen:
ein schwarzbrauner Trauerflor.
...
Mein Schwan ließ Kopf und Hals tief in die Elbe sinken;
ich wusste es längst: Meine Seele, kummerblind, wollte ins Wasser.

Ich sah meinen Schwan die Richtung ändern; er drehte ab
und nahm Kurs auf die Mole. Die oberen Federn seines
Gefieders hoben und senkten sich leicht wie Hände
beim Abschiedswinken. - Ich sah ihn nie wieder.

Dem Gedächtnis folgend, ging ich über das plattgetretene Gras
nach Hause – betäubt und glücklich wie eine Soldatin nach
einem großen Krieg.

Schiffbrüchig fühle ich mich seither ohne Herz und Seele,
aber neugeboren und stark wie der tote Fisch.

Interne Verweise

Kommentare

19. Jun 2017

Herz und Seele stecken hier
Tief in Worten - und im Tier ...

LG Axel

19. Jun 2017

Dank Axel, dir, für deinen Kommentar,
ach, wenn du wüsstest, wie das manchmal mit den Schwänen war:
Nicht nur, dass ich schon sehr früh dort im Kindergärtchen sollte sein,
nein, auf dem Weg dorthin, musste man an 'nem See vorüber - hundsgemein,
wo Schwäne waren, die mitunter zischten wie verrückt und meine Ängste spürten
und manchmal mit den Schnäbeln meine kleine "Brottasche" berührten.
(Sie schnappten förmlich danach - und ich kam schluchzend im Kindergarten an,
habe ihnen später aber alles verziehen).

LG Annelie

19. Jun 2017

Sehr eindrucksvoll, diese seelische Verschmelzung mit einem Anderswesen. Schööööön.

LG Monika

19. Jun 2017

Vielen Dank, liebe Monika, und herzlichen Glückwunsch zu deinem ersten (oder sogar zweitem) - und bisher einmaligem - Solo Renhai hier auf Literatpro. Pardon, ich muss es sofort lesen.

Liebe Grüße,
Annelie

19. Jun 2017

Seelenverwand durchs rein - und mitfühlen.
Sehr schöne Zeilen, liebe Annelie

Liebe Grüße in Deinen Nachmittag
Soléa

19. Jun 2017

Danke, liebe Soléa, für dein großes Lob.

Liebe Grüße in euren Urlaub,
Annelie

19. Jun 2017

Wunderschön, Annelie. Ich bringe es nur nicht mit dem Foto in Einklang ... dein Gedicht erzeugt andere Bilder in mir.
Liebe Grüße, Marie

19. Jun 2017

Liebe Marie, es ist auch nicht in Einklang zu bringen. Ich habe als Kind oft auf Spitzen getanzt, so oft und anscheinend so gerade und lange, dass meine Eltern mich eine Zeitlang nach Hamburg in die Ballettschule schicken wollten. Ich hätte dann nur in den Ferien nach Hause können. Aber nicht nur deshalb wollte ich nicht fort. Ich fremdelte damals noch sehr und traute mich einfach nicht, war acht oder neun Jahre alt. Und meine Eltern hätten dann wegen mir noch länger und mehr arbeiten müssen. Ich hätte ihnen ewig dankbar sein müssen. - Aber ich mag Ballett sehr und das Bild hat mich einfach bezaubert. Vielen Dank für deinen lieben Kommentar,

Liebe Grüße und weiterhin gute Genesung für deine Augen,
Annelie

19. Jun 2017

Mit deinen Erklärungen, liebe Annelie, bekommt dein Text noch mehr Tiefe. Wie das alles immer zusammenhängt und einander bedingt ...

19. Jun 2017

Danke, liebe noé, für deinen Kommentar und dein Lob. Ich glaube, dass du mein Gedicht richtig gut und zutreffend interpretiert hast.

Liebe Grüße,
Annelie

19. Jun 2017

..neugeboren und stark wie der tote Fisch.

Welch mitreißender Abschluss für eine großartig erzählte Geschichte!

Außerdem: Priel, Deich, Elbe, Mole. Erinnerungen drängen sich auf.
Danke dafür!

19. Jun 2017

Ich freue mich sehr, Willi, dass ich dir mit meinem Gedicht offenbar eine Freude machen konnte. Danke für deinen lieben Kommentar.

Liebe Grüße nach Schweden,
Annelie