Als der Himmel Trauer trug

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Seiten

Sunny hatte ewig nichts von sich hören lassen, genauer gesagt, seit der großen Sonnenfinsternis im August '91, weshalb ich buchstäblich aus allen Wolken fiel, als Wega mir ihre Nachricht überbrachte.

Als Sunny mich das erste Mal um Hilfe bat, tobte auf dem nichtsnutzigen Erdtrabanten der Zweite Weltkrieg und richtete binnen kurzer Zeit zugrunde, was in jahrzehntelanger Arbeit mühevoll aufgebaut worden war. Ich erinnere noch das Dröhnen der Bombengeschwader, die unser Himmelsgewölbe unsicher machten. Nicht allein um mein eigenes Leben habe ich damals gebangt; das Wohlergehen der Sterne lag mir gleichermaßen am Herzen.

Sunnys ersten Brief als bloße Nachricht zu bezeichnen, wie ich es mir eingangs erlaubt habe, wäre freilich stark untertrieben; sie hatte einen halben Roman zu Papier gebracht.
Damals, anno '44 wie auch heute, befand ich mich auf meinem Rundgang durch die Milchstraße und war just Spika entkommen, die mich mit dem neusten Sternentratsch versorgen wollte. Ich hätte mein Augenmerk unverzüglich auf den versiegelten Brief gelenkt, wäre mir nicht mein liebster Morgen‑ und Abendstern in die Quere gekommen: nah wie selten oder nie. So aber ließ Venus, dieses Prachtweib, mich für Stunden vergessen, dass Sunny nach ewig langer Zeit wieder von sich hören ließ.
Später freilich regte sich die Erinnerung an ihr früheres Anliegen umso heftiger in meiner einsamen Kraterseele, und Bilder aus den unseligen Kriegstagen, die ich längst verdrängt hatte, tauchten vor meinen Augen auf.

„Von Gelbauge, der alten Schabracke“, hatte Wega damals beim Abschied gespottet und mich schamlos angegrinst, nachdem sie mir Sunnys Brief in die Hand gedrückt hatte. Und just in dem Moment, als ich Funken der Eifersucht in ihren schwarzbraunen Augen glimmen sah, fügte sie hinzu: „... deiner brennend heißen Geliebten.“
„Unsinn“, hatte ich erwidert, obwohl ich ihr keinerlei Rechenschaft schuldig war, „Sunny und ich sind alte Freunde, nicht mehr und nicht weniger. Ginge sie morgens nicht mehr auf, würde sämtliches Leben auf der Erde erfrieren. Halte dir das bitte vor Augen! Obwohl – den meisten Kreaturen, die zur Zeit dort ihr Unwesen treiben, speziell in Germany, würde ich keine Träne nachweinen. Und merke dir eines, Wega: Sunny ist um Lichtjahre epochaler als ich; ich verehre sie.“ Wega hatte eine Grimasse gezogen und war beleidigt davongerauscht.
Ich setzte mich damals in meinen Hof und strich die gefalteten, eng beschriebenen Seiten glatt, die mir Sunnys zackige Botin auf so uncharmante Weise ausgehändigt hatte. Obwohl ich neugierig war, was Sunny auf dem Herzen hatte, verglich ich, bevor ich zu lesen begann, die Anwesenheitsliste der Sterne mit dem Bestand am Himmel – mir ist noch lebhaft im Gedächtnis, dass am Abend zuvor Antares fehlte, zum wiederholten Mal, angeblich wegen Magenbeschwerden; wahrscheinlicher war jedoch, dass er mit Electra herumpoussiert hatte, die sich zu jener Zeit im Wachstum befand und heftigen Strahlungswind produzierte, der auf die männlichen Jungsterne eine verheerende Anziehungskraft ausübte.

Sodann überzeugte ich mich davon, dass unserer Galaxie von der antisemitischen Erdball‑Mischpoke keine Gefahr drohte. Seit Hitler an der Macht war, schloss ich einen militärischen Angriff auf die Milchstraße nicht länger aus. Dieses Scheusal war zu allem fähig. Was der sich in kurzer Zeit alles unter den Nagel gerissen hatte! Oft genug, wenn dort unten nichts als Feuer und Rauch zu sehen war, befürchtete ich, vor lauter Zittern vom Himmel zu fallen. Aber ich will nicht klagen – und mache kein Geheimnis daraus, was Sunny, die ungern zur Feder greift, dermaßen wichtig war in jener Zeit, als nach der Kapitulation der sechsten Armee in Stalingrad zigtausend deutsche Soldaten ‑ auch denen zeigte ich nachts ein liebes Gesicht ‑ in sowjetische Gefangenenlager getrieben wurden, während Goebbels, dieser Giftzwerg mit der nervigen Stimme, von Widerstand und Treue zum Führer keifte.
Ich kenne Sunnys Brief auswendig, habe ihre aufwühlenden Zeilen an die neunzigtausend Mal gelesen; Lektüre ist Mangelware in der Galaxie.
Seither denke ich oft darüber nach, weshalb die Menschheit es nicht auf die Reihe bringt, in Frieden zu leben.
Aber nun zum Inhalt des Briefes, die Zeit drängt; ich lasse meine Sterne nur ungern alleine am Himmel zurück. –

„Luna, du musst mir helfen!!!!!!!!“, schrieb Sunny anstelle einer Anrede. Mich beeindruckten die acht Ausrufezeichen, die sie hinter diesen schlichten ersten Satz gepfeffert hatte – ein weiterer Beweis für ihr feuriges Temperament.
„Es geht um Rachel Nussbaum, dreizehn Jahre alt“, fuhr Sunny in ihrer schwungvollen Handschrift fort, „ein gutes Mädchen, das beste, das je 'unter der Sonne' gelebt hat, wie die Deutschen zu sagen pflegen, und vermutlich würde ich mich geehrt fühlen, lieber Freund, wenn dieses Volk sich nicht schon seit Jahren aufführte, als sei es geistesgestört. Mir sollten von Rechts wegen die Strahlen am Rumpf festkleben, aber keine Spur; die finden wie im Schlaf den Weg zur auf Krieg und Mord versessenen Erde. Das währt nun schon seit anno '33 ‑ seit dieser Hitler in Germany die Wahlen gewonnen hat. Und seit Oktober 41 lebt Rachel, dieses schmächtige Ding, in Birkenau, genauer gesagt, stirbt sie dort seit dem Tag ihrer Deportation einen schleichenden Tod; qualvoller geht es nicht, das kannst du mir glauben.“
Wie viele andere auch; könnte ich was dran ändern, ich hätte es längst getan, dachte ich damals, las freilich unverzüglich weiter, weil ich gespannt darauf war, was es mit dieser Rachel auf sich hatte.
„Ihre Mutter ist letztes Frühjahr an Typhus zu Grunde gegangen, und ihren Vater, den Lehrer Moshe Nussbaum, haben die Nazis nach Majdanek verschleppt“, ließ Sunny mich wissen. „Er wird diesen Krieg nicht überstehen. Dass Rachel noch am Leben ist, grenzt an ein Wunder. Das Mädel ist nur mehr Haut und Knochen. Die Frauen von Block C halten sie in ihrer Baracke versteckt.
Dalia Lewenherz, die in der Rüstungsfabrik schuftet, hat Sprengstoff ins Lager geschmuggelt. Frag mich bitte nicht, wie sie das angestellt hat; das würde jetzt zu weit führen. Mit Chajm Silberstein und dessen halbwüchsigem Sohn Rouven will sie die Krematorien in die Luft sprengen und dann aus dem Ghetto flüchten. Rachel soll mit. Worum ich dich bitte, ja anflehe, Luna: Nimm dich und deine Sterne in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag zurück und ziehe bitte diesen verrückten Antares, der dauernd so nervig nett auf die Erde abstrahlt, als befände sich dort statt

Seiten

Prosa in Kategorie: 
Thema / Klassifikation: