An meinen lieben fremden Bruder ...

Bild zeigt Annelie Kelch
von Annelie Kelch

Mein lieber Bruder, es reicht nicht mehr aus,
an eine Zukunft nur zu denken; du muss auch Sorge
dafür tragen, dass du in einem Land lebst, darin keine
Kriege geführt werden.

Ist dir das Schicksal nicht gnädig, wirst du versuchen,
zu fliehen … nach dorthin, wo Frieden herrscht und Freiheit
ein Grundrecht ist.

Gesetzt den Fall, du hast den gefährlichen Wechsel überlebt
und bist in letzter Sekunde dem Tod von der Schippe
gesprungen: Damit beginnt noch längst nicht die Zukunft.
Dir werden die Augen übergehen, lieber Bruder ...

Am selbstlosesten sind hier die Vögel: Sie zwitschern den
lieben langen Tag, ohne dass du dafür bezahlen oder sie vorher
füttern müsstest. – Lass sie bitte am Leben, selbst dann,
wenn du hundsgemeinen Kohldampf schieben musst.

Auch der Stein, Bruderherz: Sobald dein Blick ihn befeuert,
lebt er auf, und dein Hirn schmilzt. Lass ihn liegen, den Stein;
er kann töten. Du bist kein gefährliches Tier. Bedenke:
Wilde Tiere gehören in die freie Wildnis oder hinter Gittern.

Frauen, mein lieber Bruder, sind nicht dazu da, gedemütigt,
vergewaltigt und getötet zu werden. Sie sind auch keinesfalls
zum Gebären auf die Welt gekommen, sondern freie Geschöpfe
wie der Rest der Menschheit. Behandle sie bitte mit Respekt.

Lass dich nicht mit jedem ein, lieber Bruder, schenk nicht jedem
dein Vertrauen, deine Stimme. Es gibt viele hier, die dich verletzen wollen:
arme Seelen, die sich wichtig machen müssen. Selbst wenn du pünktlich
deine Miete zahlst, könnte es sein, dass sie dir das heiße Wasser
abdrehen oder Gift vor deine Wohnungstür spritzen. Sei auf der Hut …
halt dir die Nase zu, atme draußen mehrmals tief durch. Du bist
wertvoller als dieses Pack, auch wenn du kein Deutscher bist.

Lerne, lieber Bruder, lerne die Sprache des Landes und deine Rechte
und Pflichten. Lass dich von niemandem unterkriegen.
Ich wünsche dir Gesundheit und Glück, lieber Bruder.
Gib bitte nicht auf. Möglich, dass du eines Tages in dein Land
zurückkehren kannst, um die Menschen dort Frieden und
Freiheit zu lehren.

Ich wünsche dir ferner, dass dein letzter Blick aus einem Buch fällt
oder auf deine Frau, deinen Mann. Dein letzter Pinselstrich
sollte ein Punkt sein, den du hinter das Wort ,Frieden' setzt
und dein letztes Wort ein Name, der jenem Menschen gehört,
den du wirklich liebst.

Lass uns jetzt Frieden schließen – für immer, lieber Bruder:
mit der versehrten Welt und mit Menschen, die guten Willens sind.

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