Die Nacht hebt einen neuen Tag aus den Angeln;
im Hafen werden die letzten Schatten gelöscht.
Mit Schaum vor den Lippen begrüßt der große Strom
die kleine Mole: Seine Wellen hüpfen vor Freude
über die Mauer am Brodersen-Kai ...
Ein Matrose, gefangen noch im Rausch
vergangener Nächte, springt auf,
streift seine Chelsea-Boots ab und gießt
das Wasser ins Hafenbecken zurück,
während ein Dutzend Möwen um den Mastkorb
seines Frachtschiffs kreist und „sich
Bröckchen lacht“ – so stillen sie ihren Hunger.
Ich streife am Strand umher: Die Flut trug über Nacht
ans rettende Ufer, was längst gestorben ist: Holz und
tote Äste. In buntem Plastik gebettet, liegt ein Leichnam
im grauen Sand. Algen schmücken sein dunkles Haar,
in seinem offenen Mund tummeln sich kleine Fische;
Sie schwimmen rein und raus wie durch das Tor
zu einer Haushaltsmesse.
Der Tag hebt nun sein Lid bis zum Anschlag,
tauscht seinen Traum vom Frieden gegen das Hafengetös;
die Sonne schickt die Saiten ihrer goldenen Harfe
aufs verquollene, blaugefrorne Gesicht des Toten.
In einem Gesträuch, keine vier Schritte von der
Leiche entfernt, hängt ein langer schwarzer Umhang;
Noch weiß ich nicht, dass es sich bei
dem Fetzen um eine Burka handelt.
„Weshalb ...?“, frage ich die Silbermöwen, die mir gefolgt sind.
„Er trieb vom anderen Ufer rüber. Der Fisch stinkt immer vom
Kopf her* ...“, kreischen sie und stürzen sich auf die Leiche.
Ich kann damit nichts anfangen und scheuche sie fort.
Eine hackt mir mit ihrem spitzen Schnabel in die Hand,
bis sie blutet.
Mein Blut tropft auf den Anzug des Fremden.
Ich wische es nicht fort, ziehe die Burka über
den Kopf und gehe langsam und mit gesenktem
Blick über die Wiesen nach Hause.
Dort fange ich laut an zu schreien. Seit ich die
Burka trage, halten alle Züge in unserem Bahnhof.
Ich höre kreischende Bremsen und die Trillerpfeifen
der Schaffner, sobald ihr Aufenthalt abgelaufen ist;
der Kopf des Toten nickt dazu in meinem Hirn
im Dreivierteltakt – schaurig und grotesk.
***
Zwei Jahrzehnte später: Immer wieder zieht es mich
in die Heimat zu meinen Eltern, als könne ich dort
neu anfangen mit dem Leben, keine Ahnung, weshalb.
Sie beunruhigen mich eher, als dass sie mich trösten
oder mir gute Ratschläge geben. Ich fühle mich verraten
und verkauft. Außerdem sind sie nicht zu Hause.
Ich begebe mich in den nahen Park. Der ist schön
und weckt eine Menge netter Erinnerungen.
Ich lass mich auf eine der Bänke im kleinen Rosengarten
fallen und lese ein Buch.
Nach zwei Stunden habe ich es gefressen und will
erneut mein Glück versuchen.
Ich stehe auf und streife quer durch den Park.
Ein Getuschel hinter mir schreckt mich auf …
Ich drehe mich um: Mir folgt ein Pulk von Frauen,
allesamt Türkinnen.
Sie tragen Kopftuch und/oder Burka.
Ich weiß nicht, was sie von mir wollen, bin eher scheu.
Ich drehe mich mehrmals um; sie folgen mir brav
und quer durch den Park – wie Küken einer Entenmutter.
„Quak, quak, ihr Süßen“, könnte ich rufen.
Die Frauen scheinen mir gut gesonnen; lächeln mich an und
flüstern freundlich miteinander, während sie neugierig zu mir
herschauen und auf mich zustreben.
Jetzt bin ich einigermaßen beruhigt, beginne aber zu laufen.
Meine Beine sind immer noch ziemlich schnell, obwohl
man mir ständig Knüppel dazwischen wirft.
Die Frauen folgen mir durch den ganzen Park und lächeln
mir liebevoll zu, sobald ich ihnen meinen Kopf zuwende.
Das verstehe, wer will.
Als ich den Park verlassen habe, stehen sie traurig
und geknickt am Rand vor den hohen Bäumen und schauen
sehnsüchtig zu mir rüber auf die andere Straßenseite.
Ich möchte sie am liebsten allesamt mit nach Hannover nehmen,
aber wir haben nicht genügend Platz. Es sind zu viele: ein ganzes Bataillon.
Noch niemals in meinem Leben, das möchte ich hier
zum Schluss in aller Deutlichkeit betonen, bin ich herzlicher
verfolgt worden als damals im Stadtpark meiner Heimat.
*Redensart (Der Fisch stinkt vom Kopf her ...), abwertend: Wenn irgendwo etwas nicht in Ordnung ist, dann ist die Ursache dafür oft bei der „Leitung, Führung“ zu suchen.